tag:blogger.com,1999:blog-16780274022223955102024-03-05T14:12:45.804+01:00musikalische InterpretationRezensionen von Konzerten, Aufnahmen und Artikeln.
Interpretationsvergleiche.
Diskussion allgemein interessierender interpretatorischer Fragen. Beiträge zur Interpretationsforschung.Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.comBlogger13125tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-49300762002567135992010-03-18T16:02:00.014+01:002010-03-18T19:38:45.263+01:00Kongenialer Berlioz (»Symphonie fantastique« mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch)<!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2010</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 18. 03. 2010</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal"><o:p> </o:p></i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">Übersicht:<o:p></o:p></i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Kongenialität</li><li>»Fingergewohnheiten«</li><li>Das »Exzentrische« und das »Bizarre«</li><li>Eindrücke sui generis</li><li>Umgang mit dem Tempo</li><li>Metrisch ungebundener Ausdruck</li><li>Weitere Beobachtungen</li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In dem Blog <i style="mso-bidi-font-style: normal">Today`s Classical Music Video</i> wird immer wieder auf Video-Perlen klassischer Musik aufmerksam gemacht, die auf YouTube zu finden sind. Das Thema am 12.2.2010 war <a href="http://www.scena.org/blog/video/2010/02/munch-conducts-berlioz.html">der letzte Satz von Berlioz´ Symphonie fantastique mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch</a> – ein Video aus dem Jahr 1962, das vor einigen Jahren auch auf der Teldec-DVD <i style="mso-bidi-font-style:normal">The Art of Conducting – Legendary Conductors of a Golden Era</i> veröffentlicht worden ist.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In diesem Post nun soll der erste Satz der Symphonie fantastique besprochen werden, der als Teil desselben Konzertmitschnittes, leider mit einem störenden zeitlichen Versatz zwischen Video und Audio, ebenfalls auf YouTube greifbar ist:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Url: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=_s0wMe7bfMQ">http://www.youtube.com/watch?v=_s0wMe7bfMQ</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="font-size:10.0pt; mso-bidi-font-size:12.0pt;"><object width="500" height="405"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/_s0wMe7bfMQ&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/_s0wMe7bfMQ&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="500" height="405"></embed></object><o:p></o:p></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">sowie der Schluss des ersten Satzes:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Url: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=lzCTUT8XdTs">http://www.youtube.com/watch?v=lzCTUT8XdTs</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="500" height="405"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/lzCTUT8XdTs&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/lzCTUT8XdTs&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="500" height="405"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <h2><span class="Apple-style-span" style="font-size:medium;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:6;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:24px;"><br /></span></span></span></h2><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"> </p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>Kongenialität</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Auch wenn es selbstverständlich viele großartige Interpretationen klassischer Musik gibt und gegeben hat – nur in einigen sehr seltenen Fällen kam und kommt es zu einer wirklichen Anverwandlung der Musik eines Komponisten durch einen Interpreten, die vom Publikum als kongenial empfunden wird. Die gegenwärtigen Interpreten in dieser Hinsicht einzuordnen wäre sicher voreilig, und ich nenne lieber einige historische Namen in Verbindung mit bestimmten Kompositionen: Schuberts Klaviersonaten gespielt von Artur Schnabel, Chopins Etüden in der Interpretation Alfred Cortots, Maria Callas als Norma.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Im Zusammenhang mit dem Dirigenten Charles Munch wird immer wieder, nach meiner Meinung völlig zu Recht, das Außerordentliche und Besondere seiner Berlioz-Interpretationen hervorgehoben. Man mag vielleicht zögern, sie tatsächlich als kongenial zu bezeichnen, in jedem Fall aber vermitteln sie Einblicke in die Werke dieses Komponisten, die deren inneren Geist auf eine von anderen Interpreten nicht realisierte Weise erfassen und dem Hörer vermitteln.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Den Interpreten unserer Epoche scheint die Annäherung an dieses Werk nicht in einem solchen Maße zu gelingen. Eher als aktuelle Aufnahmen scheint mir eine noch ältere Einspielung dieses Werkes die Sphären allerhöchster Interpretationskunst zu erreichen, auf gepflegtere und wenn man so will bürgerlichere Weise als Charles Munch, es handelt sich um die Aufnahme mit Bruno Walter und dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire in Paris aus dem Jahr 1939. </p> <!--EndFragment--> <p></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>»Fingergewohnheiten«</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In seinen <i style="mso-bidi-font-style: normal">Mémoires</i> schreibt Berlioz: »<i style="mso-bidi-font-style:normal">Ich kann dem Zufall danken, der mich in die Notwendigkeit versetzt hat, still und frei komponieren zu lernen. Er hat mich vor der für den Gedanken so gefährlichen Tyrannei der Fingergewohnheiten bewahrt.</i>«</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Das ist nun wirklich eine interessante Formulierung ästhetischer Wahrheiten. Denn diese »Fingergewohnheiten« überdecken ja tatsächlich leicht den »Gedanken«; bei Kompositionen spricht man gerne von dem, was »zwischen den Noten steht«, und das hat es, eben aufgrund der »Fingergewohnheiten«, in vielen Fällen schwer, zur Geltung zu kommen. Auch im interpretatorischen Bereich lässt sich sinnvollerweise von »Fingergewohnheiten« sprechen, mit denen die Interpreten zunächst einmal den reibungslosen Ablauf einer Aufführung sicherstellen, und oft haben es Interpretationsansätze, die nicht auf solchen »Fingergewohnheiten« beruhen, im musikalischen Alltag schwer, sich durchzusetzen, auch wenn sie der jeweiligen Komposition gemäßer wären als die den Musikern und den Hörern vertrauten Schemata.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Berlioz´ <i style="mso-bidi-font-style: normal">Symphonie fantastique</i> nun scheint eine Aufführungsweise, die auf interpretatorische Art ebenfalls nicht von den »Fingergewohnheiten« ausgeht, ganz besonders angemessen zu sein; eben dies ist ein wichtiges Element, das zu dem besonderen Rang von Charles Munchs Berlioz-Interpretationen beiträgt.</p> <h2><span class="Apple-style-span" style="font-size:medium;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:6;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:24px;"><br /></span></span></span></h2> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>Das »Exzentrische« und das »Bizarre«</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">»<i style="mso-bidi-font-style: normal">Der Vorwurf des ›Exzentrischen‹ und des ›Bizarren‹ gehörte, seit den frühen Kritiken von Fétis, zu den Grundvokabeln akademisch-konservativer Berlioz-Kritik, der französischen wie der deutschen</i>«, lesen wir in Wolfgang Dömlings Buch <i style="mso-bidi-font-style:normal">Hector Berlioz – Die symphonisch-dramatischen Werke</i> (1979). Und weiter: »<i style="mso-bidi-font-style: normal">Bei Schumann, dessen biedermeierliche Züge unübersehbar sind, </i>[entsteht] <i style="mso-bidi-font-style:normal">Angst. ›Freilich soll die Kunst‹, heißt es einmal </i>[bei Schumann]<i style="mso-bidi-font-style:normal">, ›unglückliche Lebensoktaven und –quinten nicht nachspielen, sondern verdecken.‹ Und daher auch die treuherzige Mahnung an Berlioz, ›daß er das Excentrische seiner Richtung immer mehr mäßige‹.</i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ein solcher Eindruck des »Exzentrischen« und des »Bizarren« wird zu einem nicht unerheblichen Teil auch von der Interpretation beeinflusst. Zugegeben, im fünften Satz der Symphonie fantastique, im Hexensabbat, wird kaum ein Interpret die Intentionen des Komponisten anders als eben bizarr auffassen und wiedergeben. Aber der erste Satz der Symphonie fantastique, betitelt »<i style="mso-bidi-font-style:normal">Rêveries</i>« (Träumereien, Schwärmereien, Phantastereien), erklingt in unserer Zeit doch erstaunlich oft wie von einem klassischen Formideal beseelt, seltsam zahm und maßhaltend, als ob eben die Forderungen Schumanns wenn schon nicht in der Komposition, so doch in der Interpretation sich zu erfüllen hätten.</p> <h2><span class="Apple-style-span" style="font-size:medium;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:6;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:24px;"><br /></span></span></span></h2> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>Eindrücke sui generis</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Munch hingegen lässt in den »Schwärmereien« glutvolle Ausdrucks-Intensität verströmen, und nach meiner Meinung verwirklicht eben solch eine Darstellungsweise auf der Ebene der Interpretation in hohem Maße das, was Berlioz in seiner berühmten Instrumentationslehre zu Beginn des Kapitels »Die Instrumente« über <i style="mso-bidi-font-style:normal">Eindrücke sui generis </i>schreibt – bei Berlioz betrifft das in diesem Kontext Fragen der Instrumentation, es lässt sich das Gesagte aber gut auf den Bereich der Interpretation übertragen: »<i style="mso-bidi-font-style:normal">Der Gebrauch dieser verschiedenen Klangelemente und ihre Anwendung – sei es, Melodie, Harmonie oder Rhythmus eine Färbung zu geben, sei es, Eindrücke sui generis hervorzubringen (motiviert durch eine Ausdrucksintention oder nicht), unabhängig von der Mitwirkung der drei anderen großen Mächte der Musik </i>[damit meint er eben Melodie, Harmonie und Rhythmus]<i style="mso-bidi-font-style:normal"> – konstituiert die Kunst der Instrumentation</i>« [Übersetzung von Wolfgang Dömling].</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Bei Munchs Interpretation nun handelt es sich nicht etwa nur um eine musikalische Wiedergabe des Notentextes, die diesen analog zum eben zitierten Text interpretatorisch <i style="mso-bidi-font-style: normal">färbt</i>, nein, Munch nimmt das Stück entschlossen in die Hand, und lässt, ohne es im mindesten zu entstellen, die Wiedergabe zu einem ursprünglichen Erlebnis werden, er verleiht ihr eine <i style="mso-bidi-font-style:normal">Eindrücklichkeit</i> <i style="mso-bidi-font-style:normal">sui generis</i>.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Es ist eine interessante ästhetische Frage, ob nicht eben eine solche Interpretationsweise sui generis, wenn sie denn gelingt und nicht auf bloße Willkürlichkeit hinausläuft, <b style="mso-bidi-font-weight:normal">das eigentliche Ziel des musikalischen Intepretierens</b> zu sein hat. Diesem Ziel so oft wie möglich nahezukommen, ist, wie mir scheint, auch in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung der Interpretation von großer Bedeutung. Denn das musikalisch-interpretatorische Niveau und die interpretatorische Erfülltheit haben zweifellos mitzuwachsen, wenn andere, im Grunde äußerliche Parameter der musikalischen Wiedergabe sich immer weiterentwickeln, wie wir es zum einen derzeit bei dem instrumentalen Niveau der jungen Musikergeneration beobachten, und wie man es zum anderen auch von vielen zu einer erstaunlichen Vollkommenheit (klanglich und in Bezug auf den Schnitt) produzierten Aufnahmen der jüngeren Zeit sagen kann.</p> <h2><span class="Apple-style-span" style="font-size:medium;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:6;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:24px;"><br /></span></span></span></h2> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>Umgang mit dem Tempo</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die schiere Fülle an unterschiedlichen Tempi, die sich in Munchs Interpretation des ersten Satzes der Symphonie fantastique findet, erinnert durchaus an die Interpretationsweise Nikischs in seiner Aufnahme von Beethovens Eroica, <a href="http://musikalischeinterpretation.blogspot.com/2009/06/nikischs-interpretation-des-1-satzes.html">beschrieben in einem meiner früheren Posts</a>. Während dieses von Nikisch und Munch praktizierte Verfahren, Differenzierung und Komplexität durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Tempi herzustellen, in der Aufnahme Nikischs eher ein ästhetisch für sich selbst stehendes und wirkendes Interpretationsprinzip darstelt, steht es bei Munch, bedingt überdies durch die ganz andere Komposition, sehr viel mehr im Dienste des Ausdrucks, und es eignet den Tempowechseln bei Munch in mehreren Fällen auch etwas entschieden Schroffes.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Für Munchs manchmal geradezu wilde Beschleunigungen und Verlangsamungen kommen mir die Ausdrücke accelerando und ritardando, obwohl sachlich natürlich korrekt, nicht so recht angebracht vor, denn Charles Munch geht mit seiner Dirigierweise über den interpretatorischen Kontext, mit dem diese Bezeichnungen üblicherweise verbunden sind, wie ich finde weit hinaus. Auch sind in mehreren Fällen die kräftigen Tempoaktionen Munchs und des Orchesters in der Partitur gar nicht eingezeichnet, sie sind, in einer verbreiteten Ausdrucksweise, von ihr nicht »gedeckt«.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Sie deshalb aber als »Freiheiten« bezeichnen, die der Interpret sich nimmt, wäre eine in diesem Fall wenig treffende Ausdrucksweise, denn es ist gerade Munchs Umgang mit dem Tempo, der der Musik in so besonderem Maße zu entsprechen scheint - so als ob der Interpret es in diesem Fall tatsächlich noch besser weiß als der Komponist, als ob er also optimale interpretatorische Lösungen gefunden hat, auf die der Komponist bei der Einrichtung der Partitur nicht gekommen ist.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ein gutes Beispiel hierfür ist die bei Takt 43 beginnende Synkopenstelle, wir erleben bei Charles Munch ab diesem Takt eine starke Beschleunigung nach vorangegangener erheblicher Zurücknahme des Tempos (im ersten Video von 3:28 bis 3:44). Keine dieser beiden sehr deutlichen Tempoänderungen ist in der Partitur verzeichet, und doch werden dem Hörer gerade erst durch sie die immer wieder sich ändernden Gedanken, denen der seelisch leidende Künstler aus dem Programm der Symphonie fantastique nachhängt, so richtig deutlich und nachvollziehbar.</p> <h2><span class="Apple-style-span" style="font-size:medium;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:6;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:24px;"><br /></span></span></span></h2> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>Metrisch ungebundener Ausdruck</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Individuell wirkender Ausdruck in der musikalischen Interpretation macht sich stets bemerkbar durch musikalische Aktionen, die den Hörerwartungen nicht ganz entsprechen – Ausdruck in starker Intensität muss es also gelingen, sich von gewissen Vorgaben, vielleicht könnte man sogar sagen: von gewissen Fesseln zu lösen. Als eine solche Fessel kann unter anderem das musikalische Metrum wirken, und starker Ausdruck mag dann nicht nur dadurch entstehen, dass der Eindruck des Zählens durch die Musiker erfolgreich vermieden wird und dass das Metrum für den Hörer unmerklich wird, indem es in musikalischen Gestalten aufgeht (ein gutes Beispiel hierfür sind die Takte 24 – 26, im ersten Video ab 2:18). Vielmehr kann der Eindruck starken Ausdrucks auf einer hohen interpretatorischen Stufe auch durch subtil nuancierte Abweichungen der Platzierung der Töne und Akkorde von den zeitlichen Vorgaben des Metrums hervorgerufen werden, die zu einer Abschwächung der Wirkung des Metrums überhaupt führen und dem einzelnen Ton oder Akkord eine höhere Bedeutung verleihen. Denn die Vorgaben, die das Metrum der zeitlichen Platzierung von Tönen und Akkorden macht, entsprechen kaum der Spontaneität und der Vagheit menschlicher Gefühle, die sich ja jeder Steuerung und Determinierung entziehen und die bei ihrer Simulation durch Schauspieler oder Musiker um so authentischer wirken, je mehr von einer solchen Spontaneität und Vagheit sich dem Hörer vermittelt (ausdrücklich spricht Berlioz in seinem Programm zur Symphonie fantastique von »vague des passions«).</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die eigenwillige und individuelle Dirigiertechnik Munchs (bei ihm stehen die vertikalen Bewegungen deutlich im Vordergrund, beispielsweise im ersten Video bei 5:58 und 6:55 sowie im zweiten Video bei 1:45 und 2:08) scheint mir in erheblichem Maße im Dienste einer solchen Art von Ausdruck zu stehen – er dirigiert an manchen Stellen einzelne Töne, einzelne Akkorde auf eine Weise, die ihre Gebundenheit in einen Taktzusammenhang unkenntlich zu machen versucht, am offensichtlichsten im ersten Video bei 1:21 bis 1:25 (Takt 12) und im zweiten Video bei 2:26 bis 2:28 (Takte 487–489). Eben dadurch ist es ihm möglich, ihren Zusammenhang mit dem Metrum zu lockern und sie in der beschriebenen Weise ausdrucksmäßig wirken zu lassen.</p> <h2><span class="Apple-style-span" style="font-size:medium;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:6;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:24px;"><br /></span></span></span></h2> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>Weitere Beobachtungen</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In der Schluss-Stretta kommt es, im zweiten Video bei 2:17 bis 2:23 (Takte 475 – 482, <span style="mso-spacerun: yes"> </span>Ziffer O<sub>1</sub>), zu einem Fall von einem in der Spielweise gegenüber der Notation versetzten und dadurch falsch dargestellten Metrum; diese Thematik wird ausführlich in meinem Vortrag <a href="http://musikalischeinterpretation.de/Haupt/Resources/Verstandlichkeit%20des%20Metrums.pdf">»Verständlichkeit des Metrums«</a> dargestellt. Munch dirigiert an dieser Stelle die Zählzeit 2 deutlich als neuen metrischen Schwerpunkt, eine zweifellos weit verbreitete, aber dennoch das Metrum verfehlende interpretatorische Praxis, die die vom Komponisten intendierte Komplexität der Passage um eine ganze Dimension verringert.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Nicht zuletzt unter kulturhistorischen Gesichtspunkten interessant ist die heutzutage fast befremdlich anmutende körperliche Beherrschtheit, ja geradezu Steifheit, mit der die Orchestermusiker ihre Darbietung ausführen. Am meisten bewegen sich noch 2 vor den Pauken sitzende Geiger (ab 2:56 im Bild des ersten Videos), sowie die Flötistin und, in geringerem Maße, der Oboist (ab 6:16). Es passt zu diesem Bild, dass die Interpretation den Hörer einerseits auf das Stärkste beeindruckt, andererseits aber über ein gewisses Maß des »den Hörer Berührens« nicht hinausgeht. An bestimmten Stellen steht sie zwar kurz davor, beim Hörer eine Art innerliche Erschütterung (siehe auch <a href="http://musikalischeinterpretation.blogspot.com/2009/07/gernot-von-schultzendorff-2009-post-vom.html">mein Post zu diesem Thema</a>) auszulösen, entscheidet sich im entscheidenden Moment aber doch für die emotionale Beherrschtheit. Für eine über solche Beherrschtheit hinausgehende emotionale Wirkung wäre eine zusätzliche Dehnung der musikalischen Zeit erforderlich, die vermieden wird; Beispiele sind im ersten Video die schon erwähnte Stelle bei 2:19 (Takt 24, Ziffer C) und im zweiten Video der Übergang zu der »<i style="mso-bidi-font-style:normal">Religiosamente</i>« überschriebenen Schlusspassage bei 3:20 (Takt 511, Ziffer R<sub>1</sub>).</p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-45629822550670838932010-01-18T15:51:00.023+01:002010-01-20T09:45:21.248+01:00Überproduziert und zuviel geschnitten<div><br /></div><div><br /></div><a onblur="try {parent.deselectBloggerImageGracefully();} catch(e) {}" href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiShbIcI8vMTRiv9ASGbIYVywlEfuBYDvwXQVqgCDvi2Lu7Pt8i5HC49B5jL-9-xVB_eCk-Nli6Nik7MGyfR4_LaYPNll7PrhrvgLEVFoJLx_xEuyhV2QAQ8FKYm2joJ9rAKjZQlRJYStQq/s1600-h/9.10._CDJansen.jpg"><img style="float:left; margin:0 10px 10px 0;cursor:pointer; cursor:hand;width: 320px; height: 320px;" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiShbIcI8vMTRiv9ASGbIYVywlEfuBYDvwXQVqgCDvi2Lu7Pt8i5HC49B5jL-9-xVB_eCk-Nli6Nik7MGyfR4_LaYPNll7PrhrvgLEVFoJLx_xEuyhV2QAQ8FKYm2joJ9rAKjZQlRJYStQq/s320/9.10._CDJansen.jpg" border="0" alt="" id="BLOGGER_PHOTO_ID_5428093088603422002" /></a><p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2010</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 18. 01. 2010</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal"><o:p> </o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">CD-Kritik<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61 / <span style="mso-spacerun: yes"> </span>Janine Jansen / Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen / Paavo Järvi </b>(zusammen mit Britten: Violinkonzert / London Symphony Orchestra)<br /><a href="http://www.deccaclassics.com/newsandnewreleases/september2009/4781530.htm">Decca 478 1530</a>, siehe auch <a href="http://www.janinejansen.com/beethoven_britten/">J. Jansens Homepage</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">sowie <b style="mso-bidi-font-weight: normal">CD-Kurzkritik</b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61 / Patricia Kopatchinskaja / Orchestre de Champs-Elysées / Philippe Herreweghe </b>(zusammen mit den Violinromanzen und dem Fragment eines Violinkonzertes WoO 5 von Beethoven)<br /><a href="http://en.naive.fr/#/work/beethoven-complete-works-for-violin--orchestra">Naive 822186051740</a>, man kann auf dem Link den 1. Satz als Stream kostenfrei hören</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Während die auf der Decca-Veröffentlichung mit Beethovens Violinkonzert gekoppelte Aufnahme von Brittens Violinkonzert (J. Jansen / London Symphony Orchestra / Paavo Järvi) außerordentlich gelungen und ein großer Genuss ist, vermag es die Aufnahme des Beethovenschen Violinkonzert (J. Jansen / Kammerphilharmonie Bremen / Paavo Järvi) nicht, den Hörer zu fesseln und einen zusammenhängenden Eindruck zu vermitteln. Berichte über die Produktionsweise dokumentieren, wie Aufnahmen der Musikalität verlustig gehen können.</span></i></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">Übersicht:<br /></i>2x Zusammentreffen von Ausdrucksmusikerin mit puristischem Orchester<br />Bis zu 3000 Schnitte pro CD: Der Produzent Philip Traugott<br />"Big Brother"<br />„Philip – it has to be perfect“<br />Musikalischer Zusammenhang und Perfektion<br />Detaillierte Beschreibung eines Teils der Interpretation<br />Die Ästhetik von Aufnahmen und Konzerten</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">2x Zusammentreffen von Ausdrucksmusikerin und puristischem Orchester</b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Einige <a href="http://www.janinejansen.com/recordings8.php">Bedenken</a> hatte Janine Jansen offenbar im Vorfeld ihrer Beethoven-Aufnahme:<br />“At first I was concerned that my approach was too Romantic,” she recalls, “and that I wouldn’t blend with the orchestra’s style of playing with little vibrato and its wonderfully pure sound. I also wondered whether the magnificent Fritz Kreisler cadenza might seem slightly anachronistic. But it has become a real part of the concerto for me over the years, as I have always played it. Paavo made it an easy decision by telling me not to worry about it and to play the cadenza I felt comfortable with and convinced by. This is such a simple truth, but it’s easy to forget these things in the stress of the moment. When we played it together for the first time my doubts simply disappeared.”</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Solch ein Zusammentreffen von aus ganz unterschiedlichen interpretatorischen Richtungen kommenden Künstlern kann zweifellos zu bemerkenswerten Ergebnissen führen. Parallel zu Janine Jansens Aufnahme wurde das Violinkonzert von Beethoven auch von Patricia Kopatchinskaja eingespielt – mit dem Orchestre de Champs-Elysées unter Philippe Herreweghe, eine Kombination von Musikern also ebenfalls, die stilistisch, hier auch in ihrem Temperament kaum unterschiedlicher sein könnten. Das Ergebnis überzeugt sehr, Solistin und Dirigent gehen aufeinander zu, die Aufnahme macht auf beeindruckende Weise deutlich, wie die Unterschiedlichkeit ihrer interpretatorischen Ansätze künstlerisch fruchtbar gemacht werden kann. Ein Trailer dieser Aufnahme (den 1. Satz kann man sich unter dem oben aufgeführten Link anhören) befindet sich ebenfalls auf YouTube:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><!--StartFragment--> </p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><!--StartFragment--> </p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><!--StartFragment--> </p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=VKOUIEpa6cA">http://www.youtube.com/watch?v=VKOUIEpa6cA</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="580" height="360"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/VKOUIEpa6cA&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/VKOUIEpa6cA&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="580" height="360"></embed></object></span><b style="mso-bidi-font-weight:normal"><o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Bis zu 3000 Schnitte pro CD: Der Produzent Philip Traugott<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ich habe wenig Zweifel, dass auch das musikalische Zusammentreffen von Janine Jansen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ein künstlerischer Erfolg hätte werden können. Jedoch scheint die Art und Weise, wie diese Aufnahme produziert und geschnitten wurde, nicht geeignet gewesen zu sein, die musikalische Persönlichkeit dieser Künstlerin zur Geltung kommen zu lassen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die Aufnahme mit Janine Jansen, man kann sie leicht verzerrt auf YouTube hören</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">(1/5: die ersten 10 Minuten des 1. Satz)<br />URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=DZr67g5gY_w">http://www.youtube.com/watch?v=DZr67g5gY_w</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/DZr67g5gY_w&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/DZr67g5gY_w&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object><o:p></o:p></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">(2/5: die Fortsetzung des 1. Satzes)<br />URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=Af8DzFaun_k">http://www.youtube.com/watch?v=Af8DzFaun_k</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/Af8DzFaun_k&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/Af8DzFaun_k&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object><o:p></o:p></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">(3/5: der Schluss des 1. Satzes)<br />URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=_2GFsutsEQs">http://www.youtube.com/watch?v=_2GFsutsEQs</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/_2GFsutsEQs&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/_2GFsutsEQs&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">diese Aufnahme kommt, das fiel mir zuerst an ihr auf, einfach nicht in Fahrt. Mehrfach fragte ich mich beim ersten Hören „Wann geht es denn nun endlich los?“, erst nach knapp 12 Minuten ist eine Passage zu hören, die nicht statisch wirkt, die nicht quasi in Schönheit erstarrt (auf dem 2. YouTube-file von 1:55 bis 2:37). Was fast gänzlich fehlt sind größere musikalische Bögen in der Interpretation, und es war keine große Überraschung für mich zu erfahren, dass diese Aufnahme von Philipp Traugott produziert wurde.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Das Radio-Feature <a href="http://www.wnyc.org/shows/fishko/episodes/2007/06/15">„Classical Music Editing“</a> von Sara Fishko präsentiert die Äußerungen eines Musikers und von 2 Produzenten zum sinnvollen Umfang des Editing in der klassischen Musik, hier positioniert sich Philipp Traugott mit diesen Worten: <i style="mso-bidi-font-style:normal">„There can be, in a typical 60 minutes CD let`s say, as few as several hundred edits and as many as 3000. In the case of the latter obviously that means there`s an edit almost every second.“</i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Eine erstaunliche Äußerung fürwahr, die meisten mir bekannten Produzenten (und ich selber) arbeiten, was die Zahl der Schnitte in Aufnahmen betrifft, im Bereich von etwas einhundert bis einige hundert pro CD. Was üblicherweise eine Aufnahme mit vielen Schnitten wäre, sagen wir einmal mit 600, damit also würde Traugott gerade erst anfangen. Nun, Schnitt ist nicht gleich Schnitt, was zählt, ist zweifellos einzig das künstlerische Ergebnis. Bei der Aufnahme der Kopplung dieser CD, also des Britten-Konzerts mit dem London Symphony Orchestra beweist sich Traugott als zweifellos fähiger Produzent - nur hatte er hier wenig Einfluss auf die Interpretation, denn üblicherweise haben solche Aufnahmen mit großem Orchester aus Kostengründen eine extrem knappe Sitzungszeit, so dass nur wenige Korrekturen möglich sind.Bei der Aufnahme des Beethoven Konzerts mit der Kammerphilharmonie Bremen aber herrschten andere Produktionsbedingungen.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">„Big Brother“<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Über den Ablauf der Aufnahmesitzungen Philip Traugotts mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi findet man durchaus offenherzige Berichte im Internet. In den <a href="http://www.kn-online.de/microsites/magazinseiten/cd_tipps/115683-Das-Beethoven-Projekt.html"><i>Kieler Nachrichten</i> vom 29. 9. 2009</a> berichtet Ursula Böhmer über die Aufnahmen von Beethovens Pastorale:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">„</i> <i style="mso-bidi-font-style:normal">In akribischer Arbeit werden nun in der Pastorale spieltechnische Ungenauigkeiten ausgeräumt. Philip Traugott fungiert dabei als eine Art „Big Brother“, gibt Järvi aus der Distanz heraus Anregungen. „Unsere Arbeit ist so aufgeteilt, dass Paavo seine künstlerischen Visionen mit dem Orchester auslebt“, erklärt Traugott, „während ich mit den Musikern noch mehr ins technische Detail gehe. Und das kombinieren wir dann.“<o:p></o:p></i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">Immer wieder werden dieselben Passagen gespielt, als sogenannte „Takes“ im Computer abspeichert: An die hundert sind es nach drei Stunden. Später werden Traugott und Järvi dann die besten Aufnahmen heraussuchen. Wird das Klangergebnis bei so viel Tontechnik nicht verfälscht? „Eine Aufnahme ist etwas anderes als ein Live-Konzert“, sagt Järvi. „Mit Hilfe der Technik können wir in Details gehen, die man so im Konzert niemals hören wird. Letztlich werden wir aber einen Gesamtdurchlauf verwenden, in dem wir dann mit den einzelnen Takes eventuelle Ungenauigkeiten korrigieren können.“<o:p></o:p></i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">100 Takes in einer Aufnahmesitzung – da kann der durchschnittliche Korrekturtake nur deutlich kürzer als 1 Minute sein, denn es wird sicher dabei auch eine Ganzfassung gemacht, es gibt Pausen, manchmal wird abgehört und es wird Zeit benötigt für die Kommunikation über das Erreichte und das Benötigte. In manchen seltenen Fällen kann es schon einmal Sinn machen, einzelne Stellen, die partout nicht klappen, in solch kurzen Takes aufzunehmen, daraus können dann gelegentlich einzelne Töne korrigiert werden.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Hier aber ist offenbar die Aufmerksamkeit verengt auf eine (im Grunde unmusikalische) Perfektion, der man erlaubt hat sich zu verselbständigen. Wie soll der Eindruck von Zusammenhang entstehen in Takes, die nur wenige Takte lang sind? Und was bleibt von Gesamtfassungen noch übrig, wenn sie von über tausend Korrekturen durchsetzt sind? Dabei klingt es übrigens auch nicht so, als ob ein Gesamtdurchlauf Grundlage des Schnittes ist, dem Beethovenschen Violinkonzert ist davon im 1. Satz, abgesehen von zwei Stellen von jeweils etwa einer halben Minute Länge, jedenfalls nichts anzumerken (YouTube 2/5 die schon erwähnte Stelle 1:55 - 2:37 und 3/5 3:42 – 4:09).</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">„Philip – it has to be perfect“<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In dem Blog „The Paavo Project“ wird ein <a href="http://paavoproject.blogspot.com/2010/01/die-magie-der-holzvertafelung.html">Artikel von Carsten Niemann</a> aus dem <i>Tagesspiegel</i> vom 29.12.2009 abgedruckt, der die Aufnahme der Schumann Symphonien, ebenfalls mit der Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi und dem Produzenten Philip Traugott, beschreibt:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">„Erstaunt verfolgen die Zuhörer, wie sehr sich der Stardirigent Järvi und sein Orchester der Stimme aus dem Off anvertrauen. Gelassen folgen sie ihr sogar dort, wo Traugott einen einzelnen Akkord so lange auseinander nimmt, bis er nicht nur sauber, sondern gleißend rein klingt.“<o:p></o:p></i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Das entspricht durchaus Berichten aus der Szene, in denen es heißt, Teammitglieder seien manchmal regelrecht erschrocken gewesen, als sie in einer der Aufnahmesitzungen plötzlich auch einmal die Stimme des Dirigenten gehört hätten. Dieser scheint sich in der Zusammenarbeit mit Philip Traugott völlig zurück zu nehmen, und es ist schwer vorstellbar, dass er in den vielen kurzen Korrekturtakes noch interpretatorische Akzente setzen kann.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Weiter schreibt Niemann: <i style="mso-bidi-font-style:normal">„Järvi nachahmend, wiederholt Traugott den lakonischen Seufzer, mit dem ihn der Dirigent am ersten Tag im Tonstudio begrüßte: „Philip – it has to be perfect.“ Doch technische Perfektion ist kein Selbstzweck: So wie eine perfekte Kontrolle aus dem Regieraum dem Dirigenten erlaube, sich ganz auf den musikalischen Zusammenhang zu konzentrieren, produziert erst spieltechnische Perfektion eine Sicherheit, die es ermöglicht, dass etwas zwischen den Noten passiert. „Denn alle große Musik“, so Traugott, „spielt sich zwischen den Noten ab“.</i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Hört man die Aufnahme des 1. Satzes des Beethovenschen Violinkonzert, entsteht jedoch ein gegenteiliger Eindruck: Die technische Perfektion ist erscheint hier gerade als das, was in dem Artikel bestritten wird, nämlich als Selbstzweck, sie wirkt wie im Dienste ihrer selbst stehend. Welcher Hörer ist denn daran interessiert, dass die einzelnen Akkorde „gleißend rein“ sind und in dieser isolierten Reinheit zusammengesetzt werden, wie soll auf diese Weise die organische Wiedergabe eines der großen Werke der Musikliteratur entstehen? Sind denn nicht stattdessen Zusammenhänge, Spontaneität, Lebendigkeit die Merkmale einer Interpretation, mit denen die Hörer angesprochen werden? Das, was sich zwischen den Noten abspielt, wird, jedenfalls für mein Empfinden, durch die hier beschriebene und praktizierte Produktionsweise nicht etwa deutlich, vielmehr geht es verloren.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Musikalischer Zusammenhang und Perfektion<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In meinem Vortrag <a href="http://musikalischeinterpretation.de/Haupt/Resources/Schnitte%20und%20musikalischer%20Zusammenhang.pdf">„Schnitte und musikalischer Zusammenhang“</a>, veröffentlicht im Tagungsbericht der 25. Tonmeistertagung Leipzig November 2008, wird zum einen beschrieben, wie skrupulös sich seinerzeit Glenn Gould, der immer wieder die Legitimität, ja Notwendigkeit von Schnitten in Aufnahmen beschwor, vergewisserte, dass seine Korrekturtakes auch in die Basistakes passten, wie sehr er also um die große Gefahr wusste, dass der musikalische Fluss durch Korrekturen zerstört werden kann. In der hier beschriebenen Aufnahme jedoch geht der Verlust von Zusammenhang, den die Ganzfassungen zweifellos hatten, so weit, dass jeder Formabschnitt, ja fast jedes neue Thema für einen Hörer, der das Stück nicht kennt, auch der Beginn des Stückes sein könnte, so sehr sind die das Zusammenhangsgefühl konstituierenden Spannungen eliminiert.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Zum anderen ist es ein Anliegen des Vortrages, das Phänomen der Inspiration in der musikalischen Interpretation zu beschreiben, in Adornos etwas pathetischen Worten <i style="mso-bidi-font-style: normal">„die Erweckung des dem Werke je innewohnenden Schauers.“</i> Das mangelnde Bewusstsein für Inspiration scheint das eigentliche Problem der Traugottschen Produktionsweise in dieser Aufnahme zu sein. Denn wenn eine wirklich gute Aufnahme entstehen soll, dann darf ein nicht wirklich inspirierter Take für den Schnitt, für die endgültige Fassung keinesfalls in Betracht gezogen werden – und für einen wirklich inspirierten Take müssen die Musiker erst zusammen finden, da müssen sie dann schon, sieht man einmal von manchen sehr schnellen Sätzen ab, in aller Regel deutlich länger als 1 Minute im Zusammenhang spielen.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Detaillierte Beschreibung eines Teils der Interpretation<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die genaue Beschreibung eines dreiminütigen Abschnitts der Aufnahme (aus einer Art Protokoll, das ich beim Anhören führte) mag das Gemeinte noch stärker verdeutlichen [die Zeitangaben beziehen sich auf das YouTube-file 2/5, also den 2. Teil des 1. Satzes]:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i>"Immer wieder fallen in dieser Aufnahme kleine Stellen von bemerkenswerter Delikatesse, von Witz im Kleinen auf, z.B. bei 1:27 (in 2/5), aber das entwickelt sich dann fast stets nicht weiter. Bei 1:55 kommt endlich einmal ein auf den Hörer überspringender Funke (also nach fast 12 Minuten des Stückes!!), aber bei 2:37 geht es dann schon wieder in einen Take, dem eben diese Besonderheit und Inspiration mangelt, der vergleichsweise fast stehen bleibt. Bei 3:11 tritt das Orchesters allmählich zur Solistin hinzu – wie uninspiriert, lediglich auf Präzision bedacht ist diese Stelle!</i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i>Das Orchestertutti bei 3:18 ist für sich betrachtet durchaus beeindruckend gespielt. Aber gleich darauf entwickelt sich fast nichts, da ist in eine außermusikalische Statik hineinproduziert worden, kulminierend in der Passage 3:37 bis 3:46: arg unlebendig klingt hier das Anfangsmotiv des Satzes mit den vier aufeinanderfolgenden Vierteln des gleichen Tones!</i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i>Und so versucht man sich als Hörer wenigstens an einzelnen Tönen zu begeistern, die manchmal überirdisch gut gelingen, wie etwa bei 4:39. Jedoch müsste einem der Atem eigentlich auch stocken bei dem Übergang bei 4:44 - indessen wirkt diese Stelle in der Interpretation geradezu trivial."</i></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i><br /></i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Die Ästhetik von Aufnahmen und Konzerten<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Wenn man weiß, auf welch hohem musikalischen und technischen Niveau die Kammerphilharmonie Bremen und erst recht Janine Jansen Musik machen – dann bin ich mir ganz sicher, dass sich, in einem Klima der Inspiration, eine völlig hinreichend perfekte Aufnahme produzieren ließe mit: 2 oder 3 Ganzfassungen, einigen mit Übergängen aufgenommenen großen Abschnitten (Orchestereinleitung, Durchführung usw.) sowie mit ein paar zusätzlichen kleinen Korrekturen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Bei dieser Aufnahme, die eher nicht so günstige Kritiken (siehe z.B. im <i><a href="http://www.dilettantemusic.com/reviews/editorial/beethoven-britten-violin-concertos">All Music Guide</a></i>) erhalten hat und beispielsweise auch die YouTube-Hörer wenig anzusprechen scheint (siehe die Kommentare dort), besteht kaum Gefahr, dass sie einmal in ihrer Ästhetik als maßstabsetzend angesehen wird. Aber manch ähnliche Aufnahme, die nicht ganz so deutlich der aus Konzerten bekannten Musikalität des Interpreten widerspricht, wird leicht als „analytisch“ und „erfreulich unromantisch“ gelobt, wo es sich doch meist eher um eine analytische Produktion denn um eine analytische Interpretation, in der Regel auf Kosten von Inspiration und Lebendigkeit, handelt.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><!--StartFragment--> </p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Zu berücksichtigen ist dabei noch, dass immer wieder die Perfektion von Aufnahmen zum Maßstab gemacht wird für die Beurteilung von Konzerten. So fühlt sich mancher Künstler genötigt, in Konzerten einen großen Teil der Konzentration auf lupenreine Perfektion zu legen, worunter wiederum in aller Regel die Musikalität leidet. Und es besteht die Gefahr, ja ist es bereits gelegentlich zu beobachten, dass die Ästhetik vieler Aufnahmen, die aufgrund des ausufernden Schnittes die großen Zusammenhänge nicht wahrnehmbar werden lässt, auch in Konzerten zu dominieren beginnt, dass also an die Stelle einer ganzheitlichen Darbietung und eines entsprechenden ganzheitlichen Hörerlebnisses die Betonung und Hervorhebung einzelner aufeinander folgender und weitgehend beziehungslos nebeneinander stehender Passagen und Momente tritt.</p> <!--EndFragment--> <p></p><p></p><p></p> <!--EndFragment--> <p></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"></span></p>Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-90896531201304207672010-01-04T09:23:00.026+01:002010-01-04T11:05:31.714+01:00Interpretatorische Tempofragen: Verzögerungen und Widerstand im Ablauf von Musik sowie sich überlagernde Tempi<!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2010</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 04. 01. 2010</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">Übersicht:</i></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal"></i></p><i style="mso-bidi-font-style: normal"><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Ausgangspunkt: Brahms – Ein Deutsches Requiem</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Kurze Konzertkritik</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Musikalischer Charakter des Leides</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">1. Stilmittel: Verzögertes Erreichen von Zählzeiten</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Mit Verzögerungen dargestellter Charakter („gestautes Tempo“) und „Luftpausen“</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">2. Stilmittel: Im Tempo einer Interpretation fühlbarer Widerstand, „Mikro“-Phrasierung</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi: a. Als Charakter des Tempos</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi: b. Durch Verschränkung verschiedener musikalischer Abschnitte</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Legitimität derartiger Tempogestaltungen</span></li></ul><div><br /></div><div>Untersuchte Kompositionen:</div><div><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Brahms: Ein Deutsches Requiem</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Beethoven: Ah! Perfido</span></li><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal; ">Lalo: Cellokonzert</span></li></ul><div><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal;"><br /></span></div></div></i><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Ausgangspunkt: Brahms - Ein Deutsches Requiem<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Den Anlass zu diesen Gedanken über interpretatorische Tempofragen gab die Wiedergabe von Brahms Deutschem Requiem in einem auf der Internet-Plattform „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker am <b style="mso-bidi-font-weight:normal">20. 12. 2009</b> live übertragenen</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Konzert der Berliner Philharmoniker mit<br />- Helena Juntunen (Sopran),<br />- Gerald Finley (Bariton),<br />- Atlanta Symphony Orchestra Chorus<br />- Donald Runnicles (Dirigent).<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Einen kleinen Eindruck von diesem Konzert vermag der in der Digital Concert Hall gezeigte <a href="http://dch.berliner-philharmoniker.de/#/de/concertarchiv/archiv/2009/12/t276/">Trailer</a> zu geben, als <a href="http://dch.berliner-philharmoniker.de/#/de/concertarchiv/archiv/2009/12/s276/">Zusammenschnitt der Konzertabende</a> wird das Brahms-Requiem in dieser Interpretation für 6 € im Archiv der Digital Concert Hall als Stream angeboten.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Kurze Konzertkritik<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die Aufführung war zweifellos von sehr hohem Niveau, der Chor aus Atlanta (der sich ausschließlich aus Amateuren zusammensetzt) sang mit einer bemerkenswert guten deutschen Aussprache und einer faszinierenden Stimmqualität. In einem während der Konzertpause gezeigten <a href="http://dch.berliner-philharmoniker.de/#/de/concerthall/concert/276-3/">Interview</a> (nach Registrierung in der Digital Concert Hall kostenlos abrufbar) hörten wir einige Bemerkungen des Dirigenten Donald Runnicles über das Deutsche Requiem: „This is not a requiem for the dead but it`s a requiem for those who are still living and there is something beautiful about life“. Der das Interview führende Hornist Fergus McWilliam fragte an dieser Stelle, etwas suggestiv, nach: „something very positive then?“ und Donald Runnicles bestätigte dies mit „yes“.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Entsprechend war der Charakter der meisten Teile des Werkes, sieht man von einigen der von Gerald Finley sehr ausdrucksstark gesungenen Passagen ab, in dieser Wiedergabe von einer natürlich keineswegs fröhlichen, aber doch durchgehend deutlich positiven Stimmung. Auch Werkteile, die in vielen anderen Interpretationen das angesichts des Todes empfundene Leid nachempfindbar machen, wurden ähnlich tröstlich-positiv gespielt wie die Abschnitte, die üblicherweise als hoffnungsvoll empfunden werden. Aus diesem Grund kam es nicht zu dem sonst meist eindrücklich wirkenden Kontrast zwischen leidvollen und hoffnungsvollen Passagen, die Musik beeindruckte mit einer oft überwältigenden Intensität, wurde jedoch im Vergleich zu anderen hochklassigen Wiedergaben auch als gleichförmiger empfunden.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Musikalischer Charakter des Leides<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Es soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, mit welchen interpretatorischen Mitteln der Charakter des Leides, der sich in manchen Aufführungen dieses Werkes dem Hörer mit großer Deutlichkeit mitteilt, dargestellt werden kann. Zwei verschiedene Herangehensweisen, die über äußerlich messbare Parameter des Tempos an sich hinausgehen, möchte ich zu diesem Zweck genauer untersuchen. Sicherlich wird bei der Darstellung von Leid in aller Regel ein eher langsames Tempo gewählt, jedoch ist es nicht die Langsamkeit allein, mit der Leid für den Hörer nachempfindbar wird.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">1. Stilmittel:<br />Verzögertes Erreichen von Zählzeiten</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: italic; font-weight: bold; ">Musikbeispiel 1a: Brahms – Ein Deutsches Requiem (Terfel/BPhO/Abbado)</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In der Interpretation des 3. Satzes des Deutschen Requiems „Herr, lehre doch mich“ durch den Bariton <i style="mso-bidi-font-style:normal">Bryn Terfel</i> (in einem Mitschnitt aus Wien mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado aus den frühen 90er Jahren) </p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><a href="http://www.youtube.com/watch?v=Ne4YbR0JkGI">http://www.youtube.com/watch?v=Ne4YbR0JkGI</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="font-family: Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/Ne4YbR0JkGI&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/Ne4YbR0JkGI&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">werden (in den bei 0:13 und 1:34 beginnenden Passagen) die meisten Zählzeiten etwas verzögert erreicht gegenüber der eigentlichen Erwartung des Hörers aufgrund vielfältiger Hörerfahrungen. Da die Stimme die Haupt-Melodielinie ausformt, entsteht dieser Eindruck allein aufgrund der Gestaltung der Solo-Stimme, während das Orchester diese spezielle Art der Gestaltung nicht mitmacht. Die Gestaltungskraft des Sängers kommt gerade durch dieses zwischen Orchester und Solist etwas versetzte Erreichen der Zählzeiten besonders deutlich zur Geltung.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Eine solche sehr individuelle Gestaltungsweise steht in der Regel nur einem Solisten zur Verfügung, der ganz außerordentliche Chor dieser Aufführung (Schwedischer Rundfunkchor und Eric Ericson Kammerchor) phrasiert (ab 0:53 und 2:10) mit großer dynamischer Eindringlichkeit völlig synchron zum Orchester, die Besonderheit der Gestaltung der solistischen Passagen wird dadurch gerade unterstrichen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die kompositorische Faktur der dritten Solo-Passage (ab 2:51) weicht deutlich ab von den beiden ersten Passagen, gerade die schweren Zählzeiten singt der Solist meist allein, so dass eine zeitliche Versetzung zu Orchester oder Chor sich für den Hörer nicht ausmachen lässt. Die Zählzeiten, bei denen auch das Orchester mitspielt, singt Terfel weiterhin leicht versetzt, anders als in den ersten Passagen sind manche dieser Töne jetzt auch nach vorn versetzt, kommen also etwas zu früh. Die Wirkung ist, in Übereinstimmung mit der Komposition, die einer erneut gesteigerten Intensität dieser Passage.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Zusammenhang zwischen mit Verzögerungen dargestelltem Charakter („gestautes Tempo“) und „Luftpausen“<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Das verzögerte Erreichen von Zählzeiten wird in neuerer Literatur über musikalische Interpretation selten thematisiert, sehr prägnant allerdings sind hier die von <i style="mso-bidi-font-style: normal">Adorno</i> (in seinem Fragment „Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion“ [1946–1959, herausgegeben 2001], S. 109 und<span style="mso-spacerun: yes"> </span>147) gelegentlich genannten „Luftpausen“. [Eine eingehendere Untersuchung dieser Luftpausen, auch in ihrem Verhältnis zu den von Manfred Clynes behandelten „Micropauses“ soll der Gegenstand eines späteren Posts sein.] Adorno definiert oder beschreibt meines Wissens diese Luftpausen nie genauer, man ist darauf angewiesen, ihre Definition und Bedeutung bei Adorno aus dem Zusammenhang zu erschließen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Offenbar meint Adorno gewisse Unterbrechungen des Flusses von Musik, wie sie zur Trennung von Phrasierungsabschnitten, aber auch zur interpretatorischen Nachzeichnung der musikalischen Bedeutung beispielsweise von Modulationen erforderlich sein können (siehe auch den bemerkenswerten Aufsatz <a href="http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/447.aspx">„Harmonik und Aufführungspraxis“</a> von Hubert Moßburger in ZGMTH 6/2-3 (2009)). Die anhand der Terfelschen Brahms-Interpretation dargestellten Verzögerungen sind diesen Adornoschen Luftpausen sehr ähnlich, nur erfolgt ihr Einsatz viel gehäufter. Der Charakter solcher Luftpausen wird hier zum permanent wirksamen Stilmittel erhoben und ist in dieser Form ganz außerordentlich zur Darstellung von Leid und Traurigkeit geeignet. Terminologisch könnte man zur Kennzeichnung dieser Interpretationstechnik von einem <b style="mso-bidi-font-weight:normal">„gestauten Tempo“</b> sprechen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">2. Stilmittel:<br />Im Tempo einer Interpretation fühlbarer „Widerstand“, „Mikro“-Phrasierung<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In der musikalischen Interpretation sind die zeitlichen Abläufe innerhalb einer Zählzeit zu einem großen Teil verantwortlich für den Charakter des jeweiligen Teils der Komposition, der sich dem Hörer mitteilt. Die Armbewegungen vieler Dirigenten beschreiben den gewünschten zeitlichen Ablauf und veranlassen die Musiker zu einer entsprechenden Spielweise.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-style: italic; font-weight: bold; ">Musikbeispiel 1b: Brahms – Ein Deutsches Requiem (BPhO/Rattle)</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Im Trailer der EMI zu der Aufnahme von Brahms’ Deutschem Requiem mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern lassen sich, für jeweils nur kurze Zeit, zwei ganz unterschiedliche Zeitverläufe innerhalb der einzelnen Zählzeit beobachten:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><a href="http://www.youtube.com/watch?v=WjA3wcv0nP4&hl">http://www.youtube.com/watch?v=WjA3wcv0nP4&hl</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="580" height="360"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/WjA3wcv0nP4&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/WjA3wcv0nP4&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="580" height="360"></embed></object></span></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Von 0:21 bis 0:27 (sichtbar auch bei 0:34) zieht Simon Rattle seine Hände in einer sich nach dem Beginn der jeweiligen Zählzeit zunächst noch beschleunigenden Bewegung nach oben: Hier baut sich Spannung und Unruhe auf, ein neuer, etwas ruhigerer Abschnitt (ab 0:35) wird vorbereitet.</li><li>Bei 1:04 und erneut von 1:16 bis 1:18 bewegen sich die Hände des Dirigenten bereits kurz nach dem Beginn der Zählzeit mit ihrer größten Geschwindigkeit; besonders charakteristisch für die musikalische (und entsprechende dirirgiertechnische) Gestaltung dieser Zählzeiten ist eine ausgedehnte Phase der Verlangsamung des zeitlichen Verlaufes. Diese Verlangsamung unterscheidet sich deutlich von dem sozusagen normalen Ausschwingen einer Zählzeit, hier tritt noch ein retardierendes Element hinzu, das sich mit einem bewegungshemmenden Widerstand vielleicht am besten vergleichen lässt. Beklemmung und Gefühl der Trauer sind ausdrucksmäßig mit dieser Art der <b>„Mikro“-Phrasierung</b> eng verbunden.</li></ul><div><br /></div><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:0cm;margin-bottom: 0cm;margin-left:18.0pt;margin-bottom:.0001pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi:<br />a. Als Charakter des Tempos<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ein wahrnehmungsphysiologisches Phänomen, das mit diesen zuletzt beschriebenen Arten des zeitlichen Verlaufes von Zählzeiten verknüpft zu sein scheint, ist die für den Hörer weitgehend unbewusste Wahrnehmung zweier unterschiedlicher, parallel verlaufender Tempi in der Musikwiedergabe: Die erste Tempowahrnehmung wird ausgelöst von dem Impuls zu Beginn der jeweiligen Zählzeit, die zweite Tempowahrnehmung korrespondiert mit dem weiteren Verlauf des musikalisch wirksamen Mikrotempos innerhalb der Zählzeit, wenn denn dieser Verlauf deutlich abweicht von einer als normal angenommenen Entwicklung, oder anders ausgedrückt: sofern dieser Tempo-Verlauf der ursprünglichen musikalischen Erwartung des Hörers nicht entspricht.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;page-break-after:avoid"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi:<br />b. Durch Verschränkung verschiedener musikalischer Abschnitte<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Bei manchen Abschnitten von Werken vermag erst eine solche Interpretation die volle Ausdrucksstärke dieser Musik zur Geltung zu bringen, die verschiedene Tempi in schnellem Wechsel miteinander verschränkt, so dass in der Wahrnehmung des Hörers beide Tempi sich nicht nur abwechseln, sondern auch überlagern.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Meist wird ein relativ langsames Grundtempo von deutlich schnelleren Einwürfen unterbrochen, besonders verbreitet ist diese Spielweise in Rezitativen bzw. an Stellen mit rezitativischem Charakter.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; "><i style="mso-bidi-font-style:normal">Musikbeispiele 2a und 2b: Beethoven - Ah! perfido (Nilsson/RAI/Sawallisch </i>und<i style="mso-bidi-font-style: normal"> Studer/BPhO/Abbado)</i></span></li></ul><div><a href="http://www.youtube.com/watch?v=r_fPNJ1bMvw">http://www.youtube.com/watch?v=r_fPNJ1bMvw</a></div><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="580" height="360"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/r_fPNJ1bMvw&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/r_fPNJ1bMvw&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="580" height="360"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Birgit Nilssons Interpretation des Beginns von Beethovens Konzertarie „Ah! Perfido“ (mit dem Orchestra RAI unter Wolfgang Sawallisch) zeigt ein derartiges Abwechseln zwischen verschiedenen Tempi, das beide Tempi gleichzeitig in der Wahrnehmung des Hörers wirksam sein lässt: Auf eine vergleichsweise schnelle Orchestereinleitung folgt (von 0:18 bis 0:29) die sehr deutlich langsamer genommene erste Solo-Passage; diese wird von zwei Orchestereinwürfen unterbrochen, die aufgrund der Prägnanz, mit der die Auftakte rhythmisch markiert werden, eher das schnellere Tempo der Orchestereinleitung bewahren, als dass sie sich auf das Tempo der Sängerin einließen. Ohnehin wird das Tempo der Einleitung nach dieser Solo-Passage vom Orchester gleich wieder aufgenommen. Die beiden in dieser Einleitung parallel wahrgenommenen Tempi erzeugen eine Innenspannung, die dieser Passage in hohem Maße gerecht wird.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Den Vergleich mit einer in Bezug auf die Tempogestaltung gleichmäßigeren, ebenfalls hochklassigen Interpretation bietet Cheryl Studer (in einer Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado):</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><a href="http://www.youtube.com/watch?v=rn7RvjfryJ4">http://www.youtube.com/watch?v=rn7RvjfryJ4</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/rn7RvjfryJ4&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/rn7RvjfryJ4&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></span></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; "><i style="mso-bidi-font-style:normal">Musikbeispiele 3a und 3b: Lalo – Cellokonzert (du Pré/Cleveland/Barenboim </i>und <i style="mso-bidi-font-style: normal">Phillips)</i></span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ein ähnliches Bild wie im vorigen Musikbeispiel, jedoch von deutlich weniger rezitativischem Charakter, zeigt sich zu Beginn des ersten Satzes von Lalos Cellokonzert. Jacqueline du Pré (in ihrer Aufnahme mit dem Cleveland Orchestra unter Daniel Barenboim)</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><a href="http://www.youtube.com/watch?v=pu0oWLQugng">http://www.youtube.com/watch?v=pu0oWLQugng</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/pu0oWLQugng&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/pu0oWLQugng&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">nimmt das Tempo in ihrem ersten Solo (0:33 bis 1:48) ebenfalls deutlich langsamer als es in der Orchestereinleitung vorgegeben wurde. Das Orchester beharrt in seinen Einwürfen in dieses Solo zunächst auf seinem ursprünglichen Tempo, um am Schluss (ab 1:34) auf sehr berührende Weise auf das Tempo der Solistin einzugehen. Der Eindruck von zwei parallel verlaufenden Tempi ist in dieser Interpretation besonders ausgeprägt.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Auch hier soll durch den Vergleich mit einer Interpretation, die eine solche Tempo-Innenspannung nicht erzeugt, die besondere musikalische Wirksamkeit dieser Interpretationsweise verdeutlicht werden; in einer Aufnahme, von der ich Orchester und Dirigent nicht ermitteln konnte, spielt der Cellist Xavier Phillips die erste Solo-Passage des Cellokonzertes von Lalo im gleichen Tempo, wie es durch die Orchestereinleitung vorgegeben wurde.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><a href="http://www.youtube.com/watch?v=a1T4-i3XuIY">http://www.youtube.com/watch?v=a1T4-i3XuIY</a></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><!--StartFragment--><span style="font-family:Arial;mso-fareast-font-family: Cambria;mso-fareast-theme-font:minor-latin;mso-bidi- mso-ansi-language:DE;mso-fareast-language:EN-USfont-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="580" height="360"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/a1T4-i3XuIY&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/a1T4-i3XuIY&hl=de_DE&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="580" height="360"></embed></object></span><!--EndFragment--> </p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>Legitimität komplexer Tempogestaltungen</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die Frage, ob Tempogestaltungen wie die zuletzt beschriebenen durch Anweisungen des Komponisten gedeckt sind, wird in diesem Post nicht eigens untersucht. Ohne Zweifel waren und sind sie interpretatorische Praxis in rezitativischen Zusammenhängen. Inwieweit sie im Einzelfall geeignet sind, bestimmten Stellen in Kompositionen zu interpretatorischer Wahrheit zu verhelfen, ist weniger eine Frage von Willkür des Interpreten als vielmehr, im Falle des Gelingens, eine Frage der künstlerischen Balance zwischen Kreativität und Integrität.</p><!--StartFragment--><!--EndFragment--> <!--EndFragment--> <p></p><div><p></p> <!--EndFragment--> </div>Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-19443107598564806302009-10-12T20:22:00.019+02:002009-10-12T22:04:03.637+02:00CD-Kritik: Brahms - 2. Symphonie / Berliner Philharmoniker / Rattle<a onblur="try {parent.deselectBloggerImageGracefully();} catch(e) {}" href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhIh3dNDWgnaOBSwXWijY7WMlhr6NPmcgU3uBLDS1X-QoGjZlE9UyxoOh3Zz4xEtZ8SyfdtrYOqqVmfy96yLlZemXLE0bZRYisome-snCEqUP6vY9le1BOWG5MPr5o2gVmmuFF1tQaGgyJn/s1600-h/Brahms_Rattle_Bild.jpg"><img style="float:left; margin:0 10px 10px 0;cursor:pointer; cursor:hand;width: 300px; height: 296px;" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhIh3dNDWgnaOBSwXWijY7WMlhr6NPmcgU3uBLDS1X-QoGjZlE9UyxoOh3Zz4xEtZ8SyfdtrYOqqVmfy96yLlZemXLE0bZRYisome-snCEqUP6vY9le1BOWG5MPr5o2gVmmuFF1tQaGgyJn/s320/Brahms_Rattle_Bild.jpg" border="0" alt="" id="BLOGGER_PHOTO_ID_5391788477253288034" /></a><br /><!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 12. 10. 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">CD - Kritik</b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Brahms: Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 / Berliner Philharmoniker / Simon Rattle </b>[aus der aktuellen Gesamtaufnahme der Symphonien]<b style="mso-bidi-font-weight: normal"><br /></b><a href="http://www.emiclassics.de/produkt/5099926725420#1">EMI 2672542</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Daran anknüpfende Themen:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn</li><li>Metrizität</li><li>Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen</li><li>Große musikalische Bögen</li></ul><p class="MsoNormal">Als Appetizer für den Video-Download bei der „Digital Concert Hall“-Plattform der Berliner Philharmoniker findet man bei YouTube folgendes Video mit dem Beginn des 4. Satzes der 2. Symphonie von Johannes Brahms.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=4HXP90yzvrk">http://www.youtube.com/watch?v=4HXP90yzvrk</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><object width="873" height="525"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/4HXP90yzvrk&hl=de&fs=1&rel=0&hd=1&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/4HXP90yzvrk&hl=de&fs=1&rel=0&hd=1&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="873" height="525"></embed></object></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal"><o:p> </o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In vielerlei Hinsicht verweigert sich Rattles Interpretation tiefverwurzelten Hörerwartungen und setzt auf ein metrisch-rhythmisch sowie im Tempo strikt durchgehaltenes Konzept – mit teils (vor allem im Metrisch-Rhythmischen) großartigen, teils (vor allem was die Tempogestaltung des 1. und 3. Satzes angeht) aber auch weniger überzeugenden Ergebnissen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">So bekannt und vielgespielt sie auch sind (gerade dies mag der Grund sein), enthalten die Symphonien von Brahms eine Reihe von Passagen, deren eigentlicher interpretatorischer Sinn im Verlauf der auf Aufnahmen dokumentierten Interpretationsgeschichte meines Wissens nicht überzeugend erfasst und dargestellt zu sein scheint. Es ist geradezu eine <b style="mso-bidi-font-weight:normal">interpretatorische Sensation</b>, wie Rattle diese Passagen angeht und sie nicht enigmatisch erscheinen lässt, sondern ihnen eine völlig selbstverständlich wirkende musikalische Logik verleiht.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In der 2. Symphonie befinden sich solche Passagen vor allem im 2. Satz:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Auf die von den Celli vorgetragene Einleitung des 2. Satzes, die vom ganzen Orchester abgeschlossen wird, folgt [ab A] eine Passage, in der Terz- und Quartsprünge in gleichmäßigen Achteln mit synkopischen Sekund-Abwärtsbewegungen überlagert werden. Indem das einleitende Hornsolo durch geeignete Dehnungen einzelner Töne eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, werden die Synkopen in den folgenden Takten in einem bislang unbekannten Maße hörbar und verständlich; diese sonst so abstrakt wirkende Stelle erstrahlt hier in großer lyrischer Schönheit.</li><li>Wenige Takte später, zu Beginn des 12/8-Taktes [bei B], dehnt Rattle die durch Pizzicati der Celli markierten Zählzeiten sehr stark, so dass die übergebundenen Noten der Holzbläser geradezu in die Zählzeiten hineinzufallen scheinen. Erst diese prononcierte, unmissverständliche Verdeutlichung des Metrums ermöglicht die außerordentliche Schönheit und Poesie in der Wiedergabe dieser Passage. Erneut wird bereits vor der kritischen Stelle eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, wichtig ist an dieser Stelle auch, dass (entsprechend der Vorschrift „L`istesso tempo“) keinerlei Tempoänderung stattfindet.</li><li>Auch die Takte um E im 2. Satz, hier insbesondere die Achtel in den Bratschen und Celli, die durch die dominierenden Triolen in den 1. Violinen wie Duolen wirken, sowie den kurz darauf folgenden Übergang in den Takten 84 und 85, eine Variation der im ersten Absatz beschriebenen kompositorischen Konfiguration, habe ich noch nie mit einer so starken interpretatorischen Sinnhaftigkeit dargeboten gehört.</li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Metrizität<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die Variation der metrischen Wirkung in einer Musikwiedergabe ist ein in der musikinterpretatorischen Literatur durchaus vernachlässigtes Thema. In meiner bislang unveröffentlichten Arbeit „Das Metrum und die musikalische Zeit in der Darbietung von Musik“ (<a href="http://www.musikalischeinterpretation.de/Metrum/metrumundmusikal.html">Abstract, Inhaltsverzeichnis und Vorwort</a> sind über meiner Homepage zugänglich) benutze ich für die unterschiedlich starke Sogwirkung des Metrums auf den Hörer den in der Musik bislang nicht gebräuchlichen Begriff der Metrizität, diese bezeichnet „einen kaum messbaren, sehr wohl aber erfahrbaren Parameter der Musikwiedergabe. … Die ihn beeinflussende Spielweise bewegt sich auf dem Grat zwischen dem Verdeutlichen der metrischen Kräfte und ihrer Verschleierung, indem metrische Erwartungen beim Hörer in unterschiedlichem Maße geweckt und erfüllt werden.“</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ganz anders, als es dem Hörer durch eine Vielzahl von Interpretationen anderer Dirigenten vertraut ist, setzt Rattle in weiten Teilen der hier besprochenen Aufnahme auf ein ausgesprochen striktes und strikt durchgehaltenes Tempo. Diese Herangehensweise scheint mir in gewissem Maße verwandt zu sein mit den sehr motorischen Brahms-Interpretationen Toscaninis (für meine Ohren zählen sie zu den gelungensten Aufnahmen dieses Dirigenten), wirkt aber noch strenger und, wenn man so will, lakonischer.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die Vorteile sind ein weitgehendes Vermeiden von Pathos sowie von Dickheit, wie sie sonst oft durch Verbreiterungen des Tempos hervorgerufen wird, für mich besonders gelungen am Ende von langen forte-Passagen wie etwa im 4. Satz in den Takten vor N, die sonst leicht sogar etwas plump wirken können. Eine längerer Abschnitt, in dem diese Striktheit des Tempos der Komposition ganz besonders zu entsprechen scheint und den ich noch nie so überzeugend wie in dieser Aufnahme gehört habe, ist die 2. Hälfte der Exposition des 4. Satzes [vor allem zwischen den Buchstaben D und F].</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Jedoch kommt es bei einer solchen Interpretationsweise auch leicht zu einem Mangel an Möglichkeiten für den Hörer, im Verlauf langer Zusammenhänge gelegentlich kurz Atem zu holen und einen <b style="mso-bidi-font-weight:normal">verweilenden Blick auf einzelne Stellen</b> zu werfen – aufgrund der meist abschnittsweisen Aufnahmeweise und der Schnitttechnik ist diese Wirkung bei Studioproduktionen wie den hier vorliegenden Aufnahmen oft noch wesentlich deutlicher ausgeprägt als in Konzerten. So käme dem Werk nach meiner Meinung vor allem im 1. und 3. Satz ein stärkeres Eingehen auf die Individualität einzelner Abschnitte unbedingt zugute. Zwar werden in diesen Sätzen die Vortragsvorschriften im Prinzip eingehalten, dabei häufig aber auch nur angedeutet, so dass es in Dynamik und im Tempo nur zu wenigen Extremen kommt und, wie ich finde, durch die Moderiertheit dieser Parameter die einzelnen Stellen als solche nur eine geringe Wirkung auf den Hörer entfalten können.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Große musikalische Bögen<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Es ist wirklich erstaunlich und ungewöhnlich, einen wie großen Spannungsbogen Rattle vor allem im 1. Satz intensiv durchfühlen lässt – dieser musikalische Bogen umfasst den ganzen Satz. Seinen Höhepunkt legt Rattle auf das sforzato 4 Takte vor dem Beginn der Reprise [= 4 Takte vor Buchstabe J]. Das allerdings ist ein überraschend gewählter Punkt, mit dem ich mich bislang noch nicht recht anfreunden konnte, denn er fällt nicht mit dem dynamischen Höhepunkt zusammen, der sich, mit mehreren Takten fortissimo, bereits 12 Takte früher befindet.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In Zusammengehen mit der im vorigen Absatz beschriebenen Striktheit des Tempos entsteht dieser Spannungsbogen auf eine ungewöhnlich gleichmäßige Weise, die in ihrer Radikalität zweifellos wirkungsvoll ist. Die Zuhörer können sich der Unbedingtheit eines solchen interpretatorischen Ansatzes, den wir in jeweils etwas anderer Weise vom oben schon erwähnten späten Toscanini sowie, wenngleich nicht bei Brahms, von Pierre Boulez kennen, kaum entziehen. Aber es stellt sich gleichwohl die Frage, warum Rattle nicht auch ein paar andere Elemente einbaut, epische Ansätze verwendet, wo sie sich anbieten, und auf dem Weg zum Ziel zwar nicht gerade Umwege benutzt, so doch aber vielleicht den einen oder anderen Blick zur Seite riskiert.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Reduzierung ausdruckshafter Elemente<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Dies würde dann vermutlich einige ausdruckshafte Elemente in die Interpretation hineinbringen, die in dieser Aufnahme doch etwas ins Abseits gedrängt erscheinen.<span style="mso-spacerun: yes"> </span>Keineswegs möchte ich irgendeiner Sentimentalität das Wort reden, aber dem <i style="mso-bidi-font-style:normal">molto dolce</i> am Schluss des 3. Satzes fehlt der Dolce-Charakter beinahe vollkommen, und das, nachdem die Berliner Philharmoniker den unmittelbar vorangehenden <i style="mso-bidi-font-style: normal">dolce</i>s weitgehend gerecht geworden sind.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Oder haben wir es, der Verdacht drängt sich auf, an dieser Stelle mit einer Kombination von Aufnahme-Takes zu tun, die von technischer Warte aus zusammen passen, musikalisch jedoch nicht zusammen gehören? Denn auch zu Beginn des 2. Satzes, und hier ist überdies der Schnitt in technischer Hinsicht nicht ganz gelungen, gibt es einen Ausdrucks-Bruch: nachdem die Celli das Eingangs-Thema <span class="Apple-style-span" style="font-size: small;">mit</span> großer Intensität vorgetragen haben,<span style="mso-spacerun: yes"> </span>nehmen die Geigen es nur <span class="Apple-style-span" style="font-size: small;">mit</span> deutlich vermindertem Ausdruck wieder auf.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-89625007591109404552009-09-03T21:37:00.010+02:002009-09-04T14:37:09.264+02:00Vereinbarung von Gegensätzen in der musikalischen Interpretation von Beethovens 9. Sinfonie und Schönbergs »Pierrot lunaire«<!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 3. 9. 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Überblick:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Ingo Metzmacher: <i>Deutscher Klang? Eine Ideologie!</i></li><li><span class="Apple-style-span">Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b>B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs</b><span><b> </b></span><b>»Pierrot lunaire«</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span">Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«</span></li><li><span class="Apple-style-span">Sprechstimme in modernen Aufnahmen</span></li><li><span class="Apple-style-span">Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“</span></li><li><span class="Apple-style-span">Schönbergs eigene Aufnahme</span></li><li><span class="Apple-style-span">Muss der Interpret auch analysieren?</span></li><li><span class="Apple-style-span">Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme</span></li><li><span class="Apple-style-span">Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Einige berühmte Anweisungen von Komponisten zur Interpretation, in denen auf den ersten Blick miteinander unvereinbare Forderungen gestellt werden, die gleichzeitig in der Interpretation realisiert werden sollen, sind immer wieder Anlass zu Diskussionen und zur Positionierung im interpretatorischen Umfeld.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Es kann keine Lösung sein, sich für die Erfüllung nur einer der beiden Forderungen zu entscheiden und auf die Realisierung der jeweils anderen Forderung zu verzichten. Unkonventionelle Wege sollten dazu führen, dass sich die Forderungen letztendlich doch als miteinander vereinbar erweisen.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Ingo Metzmacher: </b><b><i>Deutscher Klang? Eine Ideologie!</i></b></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In seinem Beitrag <i><a href="http://www.crescendo.de/blog/?p=527">Deutscher Klang? Eine Ideologie!</a></i> in der Zeitschrift <i style="mso-bidi-font-style:normal">Crescendo</i> vom 21.9.2007 schreibt der Dirigent Ingo Metzmacher:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">„Jeder Dirigent kommt irgendwann an einen Punkt, an dem er sich entscheiden muss. Zum Beispiel im vierten Satz der 9. Sinfonie von Beethoven.<o:p></o:p></i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">Dort steht </i>[in Takt 9]<i style="mso-bidi-font-style:normal"> in der Partitur “Selon le caractère d’un recitative, mais in tempo” (”Nach Art eines Rezitativs, aber im Tempo”). Was aber bedeutet das? Das angegebene Tempo ist ein “Presto”. Ich muss mich also entscheiden, ob ich das wörtlich nehme oder das Tempo so stark verlangsame, dass die Celli und die Bässe in aller Ruhe “rezitieren” können. Es kann hier nur eine Entscheidung für das Eine oder Andere geben, ein Mittelweg wäre ein billiger Kompromiss.“</i></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Metzmacher geht es in seinem Artikel hauptsächlich um interpretatorische Haltungen und Klangtraditionen, mit Karajan, Furtwängler und Böhm auf der einen, Fritz Busch, Erich Kleiber und Klemperer auf der anderen Seite. Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden. Jedoch lesen sich die Sätze in Bezug auf Beethovens 9. Sinfonie so, als ob Metzmacher meint, der Dirigent müsse sich zwischen Presto und Rezitativ entscheiden, als ob also die gleichzeitige Erfüllung beider Forderungen Beethovens unmöglich wäre.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Natürlich hat Metzmacher recht darin, Kritik zu üben an Interpretationen, die an dieser Stelle von Beethovens 9. Sinfonie gleich nach dem Beginn des 4. Satzes das Tempo stark verlangsamen, um die Celli und Bässe in konventionellem rezitativischen Charakter spielen zu lassen. Beethovens Tempo-Forderung wäre ja nicht erfüllt. Aber genauso falsch wäre es doch offensichtlich auch, und das schreibt Metzmacher nicht, die Stelle in Presto-Tempo zu spielen und Beethovens Forderung des rezitativischen Charakters zu ignorieren.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Sollte es denn nicht möglich sein, rezitativische Elemente im Presto zu realisieren? In der Aufnahme Erich Kleibers (mit den Wiener Philharmonikern aus dem Jahre 1952) muss man als Hörer schon einigen guten Willen haben, um die Stelle als rezitativisch interpretiert anzusehen. Das Anfangstempo des Satzes jedoch wird auf jeden Fall beibehalten.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Eine wirklich plausible interpretatorische Verbindung von Presto und rezitativischem Charakter bietet für meine Ohren René Leibowitz in seiner legendären Aufnahme der Sinfonien Beethovens mit dem Royal Philharmonic Orchestra aus dem Jahr 1961: Hier ziehen zu Beginn dieser Stelle die Celli und Bässe das Tempo noch ein wenig an gegenüber dem Beginn des Satzes – das hat eine Wirkung wie Plappern, ist also unbedingt rezitativisch. Und am Schluss der Phrase wird das Tempo dann etwas zurückgenommen (das höhere Tempo zu Beginn der Phrase lässt Spielraum hierfür), so dass ein wenig Raum ist für Freiheiten, wie sie aus dem Bereich des Rezitativs bekannt sind. Am Schluss der folgenden Orchester-Phrase (T. 23-25), wo sich Celli und Bässe mit dem Rest des Orchesters kurz abwechseln, gelingt Leibowitz in dieser Abwechslung der Charakter von Rede und Gegenrede – auch dies ungemein rezitativischer als bei Kleiber.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Das Rezitativische ist gar nicht so sehr festgelegt auf ein langsames Tempo - es gibt ja auch schnelle Unterhaltungen; entscheidend sind vielmehr gewisse Unregelmäßigkeiten der zeitlichen Platzierung der Töne, die sich anlehnen an die Redeweise von Menschen und mit denen bestimmte rhetorische Wirkungen hervorgerufen werden. Einige weitere Anmerkungen zum Rezitativ befinden sich in meinem Post zu Vivaldis <a href="http://musikalischeinterpretation.blogspot.com/2009/08/cd-kritik.html">„La fida ninfa“</a>.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">[Ein Foto aus den Aufnahmesitzungen der Leibowitzschen Aufnahme finden Sie <a href="http://www.angelfire.com/music2/reneleibowitz/rl.html">hier</a>, ganz unten auf der verlinkten Seite. Die beiden beschriebenen Aufnahmen sind unter anderem bei Napster, auch im Rahmen einer Flatrate, zugänglich (die von Kleiber ist schwer zu finden: Erich Kleiber -> Alben -> Decca Recordings 1949-1955).]</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs<span style="mso-spacerun: yes"> </span>»Pierrot lunaire«<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In <i style="mso-bidi-font-style: normal">Byron`s Blog on Music, Performance and Research</i> gibt Avior Byron in seinem Beitrag <i><a href="http://feedproxy.google.com/~r/bymusic/byblog/~3/RhLWINJtrEg/25.html">Evaluating Sprechstimme: What early Recordings tell us</a></i><i style="mso-bidi-font-style:normal"> </i>(mehr noch in seinem <a href="http://www.bymusic.org/images/stories/byron-evaluating-sprechstimme.doc">Draft</a> eines vollständigen Artikels) einen sehr interessanten Überblick über die verschiedenen Meinungen von Interpreten und Kritikern zu Schönbergs Anweisungen bezüglich der Behandlung der Sprechstimme im »Pierrot lunaire« und analysiert den auf frühen Aufnahmen des Werkes dokumentierten Umgang der verschiedenen Sängerinnen mit diesem Werk.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Arnold Schönberg gibt in seinem „Vorwort“ zum »Pierrot lunaire« die folgenden Anweisungen für die Ausführung der Sprechstimme:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><i style="mso-bidi-font-style: normal">„Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) </i>nicht<i style="mso-bidi-font-style: normal"> zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine </i>Sprechmelodie<i style="mso-bidi-font-style:normal"> umzuwandeln. Dies geschieht, indem er 1. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, das heißt mit nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte; 2. sich des Unterschiedes zwischen </i>Gesangston<i style="mso-bidi-font-style:normal"> und </i>Sprechton<i style="mso-bidi-font-style:normal"> genau bewußt wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder …“</i>.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Sprechstimme in modernen Aufnahmen</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Leider sind mir die von Avior Byron genannten und beschriebenen frühen Aufnahmen des »Pierrot lunaire« (unter der Leitung von Schönberg, 2x Leibowitz und Rosbaud) derzeit nicht zugänglich. Bei Napster und bei YouTube kann man jedoch eine Vielzahl von neueren Aufnahmen hören.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Es ist dabei wirklich erstaunlich, mit welcher Übereinstimmung sich fast alle Interpreten über Schönbergs ausdrückliche Forderung einer Sprechstimme (<i style="mso-bidi-font-style:normal">„nicht</i> zum Singen bestimmt“) hinwegsetzen. Schönbergs Anweisung des „Fallens[s] oder Steigen[s]“ der Tonhöhe wird immer umgesetzt, aber weitgehend eben nicht im Rahmen einer Sprechstimme, sondern eines Gesangstons und mit einem entsprechend anderen Charakter; so als ob man seine Anweisungen dahingehend missverstehen dürfte, dass ein Gesangston durch Fallen oder Steigen zum Sprechton würde.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Arnold Schönberg hat seine Anweisungen mit einer bemerkenswerten Präzision formuliert, sie werden aber unter anderem von Milhaud und Boulez als rätselhaft bezeichnet. Möglicherweise ist Schönbergs Wortwahl <i style="mso-bidi-font-style:normal">„unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen“</i> hierfür ein Grund, denn sie kann leicht missverstanden werden: nach meinem Sprachverständnis bedeutet „unter guter Berücksichtigung“ im deutschen Sprachgebrauch, anders als der eigentliche Wortsinn es nahelegen würde, dass die Einhaltung der in der Partitur vorgegebenen Tonhöhen zwar nicht unwichtig, anderen Aspekten der Interpretation jedoch untergeordnet ist.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Schönbergs eigene Aufnahme</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Eine solche untergeordnete Beachtung der Tonhöhen ist nach übereinstimmender Beschreibung verschiedener Quellen eines der wesentlichen Charakteristika der von Schönberg geleiteten Aufnahme des Werkes mit der Sängerin Erika Stiedry-Wagner aus dem Jahr 1940. Bislang hat diese Aufnahme keine auktoriale, den Intentionen des Komponisten entsprechende Aufführungstradition hervorrufen können, stattdessen wird immer wieder in Zweifel gezogen, dass sie Schönbergs Intentionen tatsächlich entsprach. Über das 2008 erschienene Buch <i style="mso-bidi-font-style:normal">Sprechstimme in Arnold Schoenberg's Pierrot lunaire: A Study of Vocal Performance Practice</i> berichtet Avior Byron: „[the author] <i style="mso-bidi-font-style:normal">Aidan Soder suggested that Schoenberg did not have enough rehearsal time and that the final product on Schoenberg’s recording is perhaps not how he heard it in his ear’ </i>“. Das erscheint jedoch wenig überzeugend angesichts der vielen Aufführungen, in denen Stiedry-Wagner zuvor mit dem Werk aufgetreten war, und auch angesichts eines Briefes Schönbergs an den Dirigenten Hans Rosbaud im Jahr 1949, in dem er sich zwar über die Balance in seiner eigenen Aufnahme, nicht jedoch über die Beachtung der Tonhöhen unzufrieden zeigt.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Muss der Interpret auch analysieren?</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In mehreren von Avior Byron zitierten Äußerungen wird die Beachtung der Tonhöhen mit den unterschiedlichsten Begründungen als wesentlich bezeichnet. Byron fühlt sich dabei u.a. an „<i style="mso-bidi-font-style:normal">Eugene Narmour’s unfortunate claim that ‘many negative consequences’ will occur ‘if formal relations are not properly analyzed by the performer’ “</i> erinnert. Narmours Forderung steht in offenkundigem Gegensatz zu Erklärungen von Berg und Webern, die ein solches Wissen als nur für den Komponisten wesentlich bezeichneten (bezüglich Webern siehe meinen Beitrag <a href="http://musikalischeinterpretation.blogspot.com/2009/05/uchida-schumann-op-17-webern-op-27_26.html">in einem älteren Post</a> im Abschnitt über „Webern: Variationen op. 27). Ob es auch Zeugnisse Schönbergs zu dieser Thematik gibt, müsste am ehesten Avior Byron wissen, der an der Herausgabe bisher nicht veröffentlichter Schriften Schönbergs beteiligt ist.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Es ist aufschlussreich, die Thematik der Tonhöhe einer Sprechstimme noch etwas zu vertiefen. Es handelt sich dabei um eine in sehr eigentümlicher Weise wahrnehmbare, technisch durchaus messbare Tonhöhe, der im Gegensatz zum Gesang der eigentliche Klang, die Resonanz fehlt. Sobald man beim Sprechen sich dieser Tonhöhe vergewissern will, ja überhaupt versucht herauszufinden, in welcher Tonhöhe man gerade gesprochen hat, kippt das Sprechen um in Richtung Singen. Insofern dürfte das eigentliche Problem bei der Interpretation der Sprechstimme in Schönbergs Sinne eben diese fehlende körperliche Rückkopplung bei den Tonhöhen sein. Wahrscheinlich bedarf es jahrelanger Übung, um die Fertigkeit, beim Sprechen eine bestimmte Tonhöhe zu treffen, zu beherrschen. Es wäre interessant zu erfahren, ob Sängern mit absolutem Gehör diese Fertigkeit leichter fällt als Sängern ohne das absolute Gehör.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Zudem scheint mir, als werde eine solche Tonhöhe beim normalen Sprechen im Deutschen etwas länger ausgehalten als etwa im Englischen und im Französischen; in diesen Sprachen ist der Anteil des Fallens und Steigens vermutlich noch größer als im Deutschen. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass es mit Milhaud und Boulez keine deutschsprachigen Komponisten sind, die den Topos vom <i>„Sprechstimme Enigma“</i> geprägt haben.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold; ">Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez</span></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Von den aktuellen Aufnahmen scheint mir diejenige mit <a href="http://www.youtube.com/watch?v=nDeDoe8iZl0">Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble</a> Schönbergs Vorstellungen von der Sprechstimme am nächsten zu kommen. Leider ist in dieser Aufnahme die Balance wenig geglückt, die Sprechstimme ist entschieden zu leise. Hat man sich etwa von Schönbergs Aufnahme aus dem Jahr 1940 leiten lassen? Das wäre bedauerlich, denn von der Balance in seiner eigenen Aufnahme hat sich Schönberg in seinem Brief an Rosbaud im Jahre 1949 distanziert.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Auch Pierre Boulez hat »Pierrot lunaire« mit Marianne Pousseur eindrucksvoll aufgeführt, ich vermute dass er die "Sprechstimme"-Thematik nicht mehr so rätselhaft findet wie in den 60er Jahren. 2 der Stücke gibt es auf dem folgenden YouTube-Video zu hören und zu sehen.:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><a href="http://www.youtube.com/watch?v=UA5kC4QORtE">http://www.youtube.com/watch?v=UA5kC4QORtE</a></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span class="Apple-style-span" style=" white-space: pre; font-family:Arial, sans-serif;font-size:10px;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/UA5kC4QORtE&hl=de&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/UA5kC4QORtE&hl=de&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></span></p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-4251538680444436422009-08-24T17:59:00.004+02:002009-08-24T21:22:44.149+02:00CD-Kritik: Prokofiev 3. Klavierkonzert - Kissin/Philharmonia Orchestra/Ashkenazy<a onblur="try {parent.deselectBloggerImageGracefully();} catch(e) {}" href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh_23ZcMm8UsHqd26ofhhmwdSyAhUbuJ1Pd9MmdeGMHxeJQWqoYlF2Kw46kv-7ujZmqKHiMtZpYY6RTSvWjT59nlqVNrbzhw9ilh4jwXB_1Owd5MMPdN7PEolqlt8MjwTuRP-jMTGUCMniG/s1600-h/KissinAshk+cover.jpg"><img style="float:left; margin:0 10px 10px 0;cursor:pointer; cursor:hand;width: 300px; height: 296px;" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh_23ZcMm8UsHqd26ofhhmwdSyAhUbuJ1Pd9MmdeGMHxeJQWqoYlF2Kw46kv-7ujZmqKHiMtZpYY6RTSvWjT59nlqVNrbzhw9ilh4jwXB_1Owd5MMPdN7PEolqlt8MjwTuRP-jMTGUCMniG/s320/KissinAshk+cover.jpg" border="0" alt="" id="BLOGGER_PHOTO_ID_5373561498128104994" /></a><br /><!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 24. 8. 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">CD - Kritik</b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Prokofiev Klavierkonzerte </b><b><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">[Nr. 2 g-moll op. 16 und]</span></b><b style="mso-bidi-font-weight: normal"> Nr. 3 C-Dur op. 26 – Yevgeni Kissin / Philharmonia Orchestra London / Vladimir Ashkenazy<br /></b><a href="http://www.emimusic.de/produkt/3253027,5099926453620/evgeny_kissin-klavierkonzerte_nr_2__and_amp_3#1">EMI 2645362</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Vergleichsaufnahmen 3. Konzert <span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">[diese beiden</span><span><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;"> </span></span><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">Aufnahmen sind mit dem 1. Klavierkonzert Prokofievs gekoppelt]</span>:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;text-indent:35.4pt"></p><ul><li><a href="http://www2.deutschegrammophon.com/cat/result?sort=newest_rec&PRODUCT_NR=4398982&SearchString=prokofiev+kissin&SEARCH_OPTIONS=&IN_XXSERIES=&IN_XXPQ=&per_page=10&COMP_ID=&ALBUM_TYPE=&IN_SERIES=&ART_ID=&IN_XXAWARDS=&start=0&MOZART_22=0&GENRE=&presentation=list">Kissin / Berliner Philharmoniker / Abbado (DG 439898-2</a>, 1994)</li><li><a href="http://www.sonymasterworks.com/artist/gary-graffman/prokofiev-piano-concertos-nos-1-and-3-piano-sonatas-nos-2-and-3-great-performances.html">Graffman / Cleveland Orchestra / Szell (SonyClassical 828767874326</a>, 1966)</li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Daran anknüpfende Themen:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Idiomatik versus Struktur</li><li>Punktuell besonders gelungener Klang</li><li>Prokofievs Kompositionen, Filmmusik und deren Interpretationsweise</li><li>Die Wirkungsmacht subtiler Tempoveränderungen</li></ul>Evgeny (oder Yevgeny) Kissin hat das als pianistisch sehr anspruchsvoll geltende 3. Klavierkonzert Prokofievs häufig in seiner Karriere gespielt, von einer frühen Aufnahme aus seiner Wunderkind-Zeit (wie jung ist er da, siehe die Sequenz bei 4’28“!) gibt es die ersten 5 Minuten des 1. Satzes als faszinierendes Video bei Youtube.<p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=hD8p1MOMlic">http://www.youtube.com/watch?v=hD8p1MOMlic</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/hD8p1MOMlic&hl=de&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/hD8p1MOMlic&hl=de&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;page-break-after:avoid"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;page-break-after:avoid"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Idiomatik versus Struktur (Ashkenazy versus Abbado)<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Es ist interessant, die beiden CD-Aufnahmen des 3. Klavierkonzert, die Kissin im Abstand von 15 Jahren eingespielt hat, miteinander zu vergleichen. Die im Zusammenspiel mit dem ebenfalls russischen Dirigenten Ashkenazy sehr viel deutlichere Idiomatik (die „russische Seele“) nimmt den Hörer unmittelbar für die neuere Aufnahme ein, ebenso die häufig sehr temperamentvolle Spielweise. Aber nicht alle interpretatorischen Herausforderungen wirken restlos gelöst, die Idiomatik scheint gelegentlich (vor allem im 3. Satz) etwas übertrieben, der Übergang vom 2. zum 3. Satz wirkt sehr schnell, ebenso wie einige Übergänge innerhalb der Sätze. Insbesondere Ashkenazy reizt die idiomatischen und spielerischen Aspekte des Stückes so weit aus, dass dem Hörer andere Perspektiven etwas zu wenig beachtet vorkommen können.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">So stellt die Spielweise der Berliner Philharmoniker unter Abbados Leitung, die auf eine ganz selbstverständliche Weise die großflächige und die feinere Struktur des Werkes als einen der interpretatorischen Ausgangspunkte behandelt, in wesentlich stärkerem Maße den Eindruck eines „klassischen“ Stückes her. Was hier zum Tragen kommt, ist dieses schwer zu beschreibende Gefühl des Hörers, dass sich verschiedene Teile der Sätze strukturell aufeinander beziehen, und dass, merklich durch winzige Unterteilungen, eine Phrase auch in der Aufeinander-Bezüglichkeit ihrer einzelnen Elemente dargestellt wird; ein interpretatorisches Element, das, wie man auf Aufnahmen gut verfolgen kann, in Interpretationen der letzten Jahrzehnte generell eine sehr viel größere Rolle spielt als in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Punktuell besonders gelungener Klang<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Der Klang der neuen Aufnahme bewegt sich auf sehr hohem Niveau, es ist jedoch auffällig, dass einzelne Stellen ganz besonders gut gelungen sind – beispielsweise der allererste Anfang und die Stelle bei 9’ im 2. Satz. Eine solche Wirkung kann leicht zu Tage treten aufgrund einer Verfahrensweise bei der Nachbearbeitung einer Aufnahme, bei der man die während der Aufnahme bereits erstellte 2-Spur-Mischung weitgehend übernimmt und nur einzelne, meist von den Künstlern benannte Stellen mit besonderer Sorgfalt von den ebenfalls aufgenommenen und geschnittenen Multitrack-Spuren erneut abmischt. So gewinnt der aufmerksame Hörer eventuell eine Ahnung davon, wie gut die gesamte Aufnahme klingen könnte, wenn man nicht nur einzelne Stellen, sondern alles noch einmal neu abgemischt hätte. Nicht immer freilich ist eine komplette Neuabmischung eine Garantie für besseres Gelingen – der Vorteil einer Livemischung kann auch eine größere Einheitlichkeit sein.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Prokofievs Kompositionen, Filmmusik und deren Interpretationsweise<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Nicht nur hat Prokofiev neben seinen Werken für die Oper und den Konzertsaal auch eine beträchtliche Menge an eigener Filmmusik geschrieben – sein Kompositionsstil, häufig auch einzelne Details seiner Kompositionen sind in größerem Umfang von anderen Filmmusik-Komponisten imitiert, wenn nicht gar kopiert worden.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Die meist punktuell bestimmten Filmszenen dienende Rolle von Filmmusik bedingt auch einen deutlich anderen Interpretationsstil als bei einer nur im Konzertsaal beheimateten Musik. Bei dem Komponisten Prokofiev kann sich das durchaus vermischen, und während man bei der Aufnahme mit Abbado von Filmmusik wenig wahrnimmt, setzt Ashenazy sehr viel deutlicher auf diese Komponente. Die Spielweise vieler Passagen hat bei ihm neben dem Charakter der absoluten Musik auch einen plakativen Charakter, und Stellen, die auf den Effekt hin komponiert zu sein scheinen, bekommen diesen Effekt interpretatorisch auch uneingeschränkt zugestanden; in einer sehr beeindruckenden, manchmal aber, in dem Kontext des sonstigen Interpretationsstils, auch fast schon übertriebenen Weise.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ein Betrachter des oben in diesem Post eingebundenen YouTube-Videos macht in seinem Kommentar aufmerksam auf die Aufnahme 3. Klavierkonzertes mit Gary Graffman und dem Cleveland Orchestra unter George Szell. Diese, aus einer Zeit (1966) stammend, da solche Art von Filmmusik noch in großem Umfang komponiert und von den Orchestern eingespielt wurde, behandelt, mit größter Konsequenz und Virtuosität, das gesamte Konzert wie Filmmusik. Es wird anhand dieser eindrucksvollen Aufnahme besonders deutlich, wie sehr Prokofiev zwischen den Welten steht und dass er gewissermaßen für die Filmmusik fast zu gut, für die Konzertmusik hingegen ungewöhnlich effektvoll komponiert hat.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Die Wirkungsmacht subtiler Tempoveränderungen<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Was die Aufnahme mit Graffman aber besonders weit über die normalen künstlerischen Ambitionen von Filmmusik heraushebt, ist ihr herausragender Umgang mit einem interpretatorischen Kunstmittel, dessen zentrale Rolle für die angemessene Interpretation sehr vieler Kompositionen meines Erachtens keineswegs immer gebührend gewürdigt wird.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In dem Abschnitt „Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel“ meines Posts <a href="http://musikalischeinterpretation.blogspot.com/2009/06/nikischs-interpretation-des-1-satzes.html">„Nikischs Interpretation des 1. Satzes von Beethovens 5. Symphonie“</a> werden vorrangig große und deutliche Tempoveränderungen untersucht, die Nikisch äußerst souverän, mit einer von späteren Interpreten nicht wieder erreichten Virtuosität und gleichzeitig Musikalität zum zentralen Gestaltungsmittel seiner Interpretation macht. Die Kunst der interpretatorischen Differenzierung mittels kleiner, eher unauffälliger Tempoveränderungen in Momenten bestimmter Motiv-, Themen- oder Harmoniewechsel hingegen ist eine viel dezentere. In vielen Fällen vermag aber nur sie dem Verlauf eines Stückes die notwendigen subtilen Perspektiv- oder Beleuchtungsmodifikationen zu verleihen, mit denen sichergestellt werden kann, dass bestimmte Veränderungen in der kompositorischen Struktur (formaler wie harmonischer Art) vom Hörer nicht nur gehört, sondern auch wahrgenommen werden, ohne dass ihre Wirkung gleich gewissermaßen die eines „an die große Glocke Hängens“ ist.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Aus umgekehrter Sichtweise ist es durchaus so, dass bestimmte Stellen in Kompositionen derartige Tempoveränderungen geradezu zwingend erfordern und man von einem „Überspielen“ oder auch „Verschenken“ der betreffenden Stelle sprechen kann, wenn eben eine solche Tempomodifikation vom Interpreten nicht realisiert, wenn der „Sinn“ der betreffenden Stelle vom Interpreten nicht dargestellt wird.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Graffmann und Szell nun erweisen sich als ausgesprochene Meister dieses Darstellungsmittels, in Verbindung mit ihrem stilsicheren Umgang mit Tempozurücknahmen an den richtigen Stellen gestalten sie dieses Werk in einer äußerst wirkungsvollen, dabei stets angemessenen Weise. - Angesichts dieser vorliegenden Interpretationen vor die Wahl für die klassische, die idiomatische oder die kineastische Variante gestellt, würde ich alle Aufnahmen sehr hoch einschätzen, mich vermutlich aber für die effektvolle, letztgenannte Aufnahme entscheiden.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">[Der Verfasser war Tonmeister der Aufnahme mit Kissin und Abbado und hat mit Gary Graffman das Parergon zur Symphonia Domestica von Richard Strauss aufgenommen.</span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">Graffman erkrankte auf dem Höhepunkt seiner Karriere an einer Musikerdystonie, die ihm das weitere Spiel mit der rechten Hand unmöglich machte. Ein noch etwas bekannterer Künstler mit dieser Krankheit ist der Pianist Leon Fleisher – diesem gelang es nach vielen Jahren, die Dystonie zu überwinden. Die Musikerdystonie wird ausführlich beschrieben in Kapitel 22 von Oliver Sacks sehr bemerkenswertem Buch </span><i><a href="http://www.rowohlt.de/magazin_artikel/Oliver_Sacks_Der_einarmige_Pianist.12082009.2798380.html"><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">„Der einarmige Pianist“</span></a><span class="Apple-style-span" style="font-style: normal;"><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">.]</span></span></i></p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-8738863749141733212009-08-17T16:44:00.041+02:002009-08-27T09:20:48.806+02:00CD-Kritik: Vivaldi - La fida ninfa / Ensemble Matheus<a onblur="try {parent.deselectBloggerImageGracefully();} catch(e) {}" href="http://en.naive.fr/public/img/front/pho/works/205x205/001211.jpg"><img style="float:left; margin:0 10px 10px 0;cursor:pointer; cursor:hand;width: 300px; height: 265px;" src="http://en.naive.fr/public/img/front/pho/works/205x205/001211.jpg" border="0" alt="" /></a><br /><!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 17. 8. 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">CD - Kritik</b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Vivaldi: La fida ninfa / Jaroussky, Cangemi, Lemieux, Regazzo, Piau, Lehtipuu, Mingardo, Senn / Ensemble Matheus / Jean-Christophe Spinosi</b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><a href="http://en.naive.fr/#/work/vivaldi-la-fida-ninfa">Naive OP 30410</a></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Daran anknüpfende Themen:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"></p><ul><li><span class="Apple-style-span" style="white-space: pre;"> Individualität in der Musizierweise von Solisten und Ensembles</span></li><li><span class="Apple-tab-span" style="white-space:pre"> </span>Stiefkind Rezitativ?</li><li><span class="Apple-tab-span" style="white-space:pre"> </span>Lebendigkeit in Studioaufnahmen</li></ul><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">In einigen Jahren, im historischen Rückblick, dürfte das Ensemble Matheus als besonders wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Interpretationskunst im Bereich der Barockmusik betrachtet werden. Die wichtigsten Impulse der historischen Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte werden zusammengefasst und mit einer atemberaubenden Lebendigkeit sowie höchster Musikalität zur Darbietung gebracht.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Folgendes YouTube Video des Duetts „Dimmi pastore“ mag, trotz des eigentlich unbefriedigenden Klanges, Interessierte auf den Geschmack bringen, und auch eine Vorstellung von den ergänzenden darstellerischen Möglichkeiten bei einer Aufführung geben, die dem reinen Audio naturgemäß verschlossen sind:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><a href="http://www.youtube.com/watch?v=QV5i31YGr_0">Link zum YouTube-Video</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/QV5i31YGr_0&hl=de&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/QV5i31YGr_0&hl=de&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><span class="Apple-style-span" style="white-space: pre; "><b>Individualität in der Musizierweise von Solisten und Ensembles</b></span></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Lebendigkeit und individuelle Zeichnung der Musik sind Felder der musikalischen Interpretation, bei denen, allgemein betrachtet, Solisten (Instrumentalisten und Sänger) meist deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als einem naturgemäß eher schwerfälligeren Ensemble. In einer guten Interpretation allerdings wird beim Zusammenspiel stets darauf geachtet werden, dass die auf diese Weise entstehende Diskrepanz ein gewisses Maß der Auffälligkeit nicht überschreitet.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Bei dem so lebendig spielenden und individuell zeichnenden Ensemble Matheus nun sind die Verhältnisse etwas anders. Für meine Ohren und meinen Geschmack sind von den Solisten der famose und so hintergründige Philippe Jaroussky und die großartige Verónica Cangemi noch ausdrucksstärker und reaktionsschneller als das Ensemble Matheus; die übrigen Sängerinnen und Sänger bieten eine sehr bemerkenswerte Leistung, die an musikalischer Lebendigkeit vom Ensemble Matheus jedoch noch übertroffen wird.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Nun mag dies fast nach einem Wettstreit zwischen den beteiligten Musikern klingen, davon jedoch kann in keiner Weise die Rede sein und das eben Dargelegte dient lediglich zur genaueren musikalischen Charakterisierung der Darbietung. Tatsächlich ist gerade das Zusammen-Musizieren und die Ensembleleistung ganz besonders hervorzuheben. Diese Aufnahme realisiert einen Grad der musikalischen und klanglichen Umsetzung des Notentextes, den man gemeinhin kongenial nennt, und stellt einen besonderen Glücksfall der Aufnahmekunst dar.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Einige kleine Anmerkungen sollten dennoch erlaubt sein:<br />Die <b style="mso-bidi-font-weight:normal">klangliche Umsetzung</b> dieser Aufnahme bewegt sich auf sehr hohem, der Interpretation angemessenem Niveau. Vielleicht wären der Verzicht auf ein letztes Quentchen des recht üppigen Halls und eine etwas weniger starke Betonung der an Raumresonanzen reichen Tiefen allerdings musikalisch noch überzeugender gewesen; bezüglich der Balance scheint mir das Cembalo gelegentlich erstaunlich leise geraten zu sein. In dem Duett „Dimmi pastore“ kann sich Marie-Nicole Lemieux nicht so gut durchsetzen wie Philippe Laroussky, die Balance im YouTube-Video (trotz der sonstigen Begrenztheit des Klanges) funktioniert in dieser Beziehung überzeugender.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Stiefkind Rezitativ?<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">So erfreulich die Weiterentwicklung der historischen Aufführungspraxis im Allgemeinen ist, scheint, seit es Aufnahmen gibt, die <b style="mso-bidi-font-weight:normal">Kunst des Rezitativs</b> sich der musikalischen Überzeugungskraft von Arien nicht wirklich annähern zu können. Was die hier besprochene Aufnahme anbelangt, leisten in den Rezitativen erneut Jaroussky und Cangemi Außerordentliches, ihre enorme Flexibilität und intensive Charakterisierungsfähigkeit auf kleinstem Raum lässt fast keine Wünsche mehr übrig. Bei einigen anderen Rezitativen jedoch kommt die musikalische Ausdruckskunst nicht ganz an die der jeweils folgenden Arien heran; Rezitative laufen ja stets Gefahr, nicht mit der Aufmerksamkeit behandelt zu werden, wie sie den Arien zuteil wird. Bei dieser Art von Oper jedoch machen die Rezitative ungefähr die Hälfte der Gesamtspielzeit aus und benötigen in einer reinen Audio-Aufnahme, die ohne das visuelle Element auskommen muss, ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, ja eigentlich Überdeutlichkeit.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Das ist bei dieser Aufnahme natürlich eine Anmerkung, die sich auf ein allgemein äußerst hohes musikalisches Niveau bezieht, es gibt hier keine nicht gelungenen Passagen, und man wird als Hörer der gesamten Aufnahme keinesfalls versucht sein, einzelne Rezitative zu überspringen, um etwa ohne Rezitativ gleich die nächste Arie zu hören.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><b><br /></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Lebendigkeit in Studioaufnahmen<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">So kann man nur staunen über die hohe Lebendigkeit, die hier erreicht wird und der man sonst meist nur bei besonders geglückten Konzerten begegnet. Normalerweise springt bei Aufnahmen, insbesondere bei Studio-Produktion, der musikalische Funke nur sehr selten in diesem bemerkenswerten Maße über – das Publikum muss hier von den Musikern ja imaginiert werden, und es muss trotz der Abwesenheit eines Publikums gelingen, sich von allen Gedanken an die zu bewältigenden technischen Probleme frei zu machen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Dabei übertrifft das Ensemble Matheus bei seinen Konzerten offenbar noch die auf den Aufnahmen erreichte Lebendigkeit, ohne dass erwähnenswerte oder gar bedauerliche Einbußen bei der Perfektion zu beobachten wären, anders als die eher seltenen Fälle von Musikern und Ensembles, die sich im Schutz des Studios eigentlich wohler fühlen als in Konzerten, so dass deren auf Aufnahmen realisierte Leistungen in Konzerten dann nur selten auf entsprechendem Niveau reproduziert werden können. </p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-72616663917166089962009-07-19T18:42:00.032+02:002009-10-17T11:17:25.959+02:00Erschütterung und Inniglichkeit beim Hören von Musik<!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 19. 7. 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Erschütterung und Inniglichkeit beim Hören von Musik</b><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold;"><br /></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Übersicht:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:0cm;margin-bottom: 0cm;margin-left:35.0pt;margin-bottom:.0001pt">taz-Artikel über Holger Schäfer (Minnesänger)<br />Videos<br />Erschütterung durch Musik<br />Vorstufe der Erschütterung: Das Berührt-Sein<br />„Inneres Verstehen“ der Musik<br />Unsagbarkeit – Qualia<br />Innerlichkeit<br />Inspiration<br />Resümee</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">In einem Porträt des Minnesängers Holger Schäfer in der taz spricht dieser der klassischen Musik das durch „innig[es] Musik machen“ entstehende „innerliche Erschüttert-Sein“ ab, „so etwas gebe es […] höchstens bei Chören, im Folk und natürlich beim Minnesang.“</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Dieser Blog-Beitrag stellt den taz-Artikel illustrierende Youtube-Videos vor, gibt einen Überblick über im Zusammenhang mit Inniglichkeit und Erschüttert-Sein wichtige Themen und Begriffe und macht Vorschläge zu einer Kategorisierung dieser Begriffe.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">taz-Artikel über Holger Schäfer (Minnesänger)<span class="Apple-style-span" style=" font-weight: normal; "><span style=""></span></span></b></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal"><span class="Apple-style-span" style=" font-weight: normal; "><span style=""><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">aus „Das Ziel ist absolute Innigkeit“ – Porträt Holger Schäfers von Tim </span></span><span style=""><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">Meyer</span></span><span style=""><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;"> in der taz Nord vom 16.7.2009, S. 27 (</span><a href="http://www.taz.de/regional/nord/nord-aktuell/artikel/1/das-ziel-ist-absolute-innigkeit/"><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">http://www.taz.de/regional/nord/nord-aktuell/artikel/1/das-ziel-ist-absolute-innigkeit/</span></a><span class="Apple-style-span" style="font-size:small;">):</span></span></span></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Holger Schäfer greift sich seinen Laptop, ruft Youtube auf und sucht ein Video des Freiburgerr Barockorchesters: „Brandenburg Concertos No.4 – i: Allegro“ von Bach. Perfekt gespielt, aber die Gesichter sehen kühl aus. „So könnte ich mich auch hinstellen und spielen“, sagt er. „Aber das innerliche Erschüttert-Sein, das gibt es hier nicht. Alles ist durchgestylt.“</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Dann holt er wieder das Blatt Papier, malt zwei Gruppen mit kleinen Kreisen: „Das sind die Musiker, das ist das Publikum“ Er beschreibt, was passiert, wenn sich Musiker auf ihr Profil, auf sich alleine, konzentrieren. Dann sind sie für sich und faszinieren das Publikum mit ihrem Können. Wenn sie dagegen innig Musik machen würden, könnten sie gemeinsam mit dem Publikum zu einer Einheit verschmelzen. „So entsteht ein Kraftfeld, ein Wir“, sagt Holger Schäfer. Aber so etwas gebe es nicht in der klassischen Musik, sondern höchstens bei Chören, im Folk und natürlich beim Minnesang.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Das ist das Ziel von Holger Schäfer beim Musikmachen: Das Profil, die Konzentration auf die Intonation eines einzelnen Tons, immer weniger wichtig zu nehmen, es geschehen zu lassen und in der Innigkeit aufzugehen. Er nennt es „Spiritualität“.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Videos<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;text-indent:35.4pt">1. Das Video, auf das sich Holger Schäfer bezieht:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">J. S. Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 4, 1. Satz – Allegro mit dem Freiburger Barockorchester</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=MDrLX7FXba4&feature=PlayList&p=7324999E6554BCE1&playnext=1&playnext_from=PL&index=8">http://www.youtube.com/watch?v=MDrLX7FXba4</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/MDrLX7FXba4&hl=de&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/MDrLX7FXba4&hl=de&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Dieses Video leidet in seiner Youtube-Version unter einem gewaltigen Versatz (mehr als eine halbe Sekunde) zwischen Audio und Video, so dass der Betrachter keine musikalische Korrelation zwischen den Bewegungen und der Musik mehr herstellen kann. Es handelt sich ansonsten um eine typische, durchaus hochklassige „Studio“-Video-Produktion, bei der vermutlich das Audio mit einer Reihe von Schnitten zur gewünschten Perfektion gebracht wurde.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="mso-tab-count:1"> </span>2. Dass auch in der klassischen Musik wesentlich lebendigere und faszinierendere Darbietungen möglich sind, zeigt dieses Video:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">G. Ph. Telemann: Konzert für Blockflöte, Traverso und Orchester, TWV 52:e1 mit dem Ensemble Matheus</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=ipdSzDfhJA4">http://www.youtube.com/watch?v=ipdSzDfhJA4</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="445" height="364"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/ipdSzDfhJA4&hl=de&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/ipdSzDfhJA4&hl=de&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="445" height="364"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Das Video ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Herstellung von Lebendigkeit bei der Wiedergabe von Musik den Musikern in der Live-Situation oft leichter fällt. Vielen Dank an Avior Byron, der mich in seinem Blog auf dieses Video aufmerksam machte.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="mso-tab-count:1"> </span>3. Von Holger Schäfer existiert bei Youtube keine zusammenhängende Aufnahme, nur ein Kurzporträt sowie 2 Berichte über den Minnersänger-Wettstreit 2008 in Clingenburg, aus dem er als „Minnesänger des Jahres 2008“ hervorging.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="mso-tab-count:1"> </span>3.a. Videoporträt Holger Schäfer</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=XCcpisyxJw0">http://www.youtube.com/watch?v=XCcpisyxJw0</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style=" font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial;font-size:10.0pt;"><object width="580" height="360"><param name="movie" value="http://www.youtube-nocookie.com/v/XCcpisyxJw0&hl=de&fs=1&rel=0&border=1"><param name="allowFullScreen" value="true"><param name="allowscriptaccess" value="always"><embed src="http://www.youtube-nocookie.com/v/XCcpisyxJw0&hl=de&fs=1&rel=0&border=1" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="580" height="360"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span style="mso-tab-count:1"> </span>3.b. Minnesängerwettstreit 2008 in Clingenburg</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=grSnnoUXQH0">http://www.youtube.com/watch?v=grSnnoUXQH0</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">URL: <a href="http://www.youtube.com/watch?v=8DMU0bwPDfI">http://www.youtube.com/watch?v=8DMU0bwPDfI</a></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">(Eine Einbettung in das Blog ist leider nicht möglich)</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;page-break-after:avoid"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Erschütterung durch Musik<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Holger Schäfer spricht sicher einen charakteristischen, manche würden vielleicht sogar sagen: wunden Punkt in der Musikpraxis der klassischen Musik an, wenn er sagt, das innerliche Erschüttert-Sein gebe es in der klassischen Musik nicht. Ganz recht hat er damit sicherlich nicht; wer etwa in ihrer besten Zeit Maria Callas erleben konnte, war gewiss erschüttert von ihren Darbietungen (eine Ahnung davon vermittelt das Video <a href="http://www.youtube.com/watch?v=tmN8YT9Avg4">http://www.youtube.com/watch?v=tmN8YT9Avg4</a>). Aber der Callas in der Tiefe und Intensität ihrer Darstellung und ihres Gesangs wirklich vergleichbare Künstler gibt es derzeit nicht, und bereits ihre zahlreichen Studioaufnahmen beindrucken zwar durch Intensität und Perfektion, gehen dem Hörer jedoch nicht wirklich nahe.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Vorstufe der Erschütterung: Das Berührt-Werden<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Jedoch gehen wir als Besucher von Konzerten zwar nicht immer, aber doch häufig oder zumindest gelegentlich innerlich erfüllt nach Hause, und das heißt dann letztlich, dass wir von den musikalischen Darbietungen zwar wohl nicht erschüttert, aber doch berührt wurden. Das kann verschiedene Ursachen haben, auch Lebendigkeit, Perfektion und Virtuosität können nicht nur beeindrucken, sondern den hierfür empfänglichen Hörer berühren (wenngleich sicher nicht erschüttern). Wichtiger jedoch für das Berührt-Werden aber ist eine im Grunde nicht beschreibbare Qualität der Darbietung, die in starkem Maße von der Fähigkeit der Künstler abhängt, einerseits tief in die Musik einzudringen, andererseits dieses eigene Eindringen in die Musik in der Darbietung selbst umzusetzen und es dadurch den Hörern zu vermitteln.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">„Inneres Verstehen“ der Musik<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Sehr hilfreich für das Verständnis der hieran beteiligten Vorgänge scheint mir der vom Dirigenten Paavo Järvi gebrauchte Begriff des „inneren Verstehens“ von Musik zu sein. Järvi berichtet über die Unterschiede zwischen den beiden von ihm geleiteten Orchestern in Frankfurt und Cincinatti: „ Was ich hier in Frankfurt lerne, möchte ich in Cincinnati zur Anwendung bringen und umgekehrt. Dem deutschen Orchester fehlt manchmal die letzte Spur Brillanz, aber die Musiker haben mehr von dem, was ich »inneres Verstehen« nennen möchte. In Amerika sieht das Problem dagegen genau anders herum aus“ (<a href="http://www.musicincincinnati.com/site/news/Mile_High_Paavo_Brings_Cincinnati_Symphony_to_Frankfurt.html">http://www.musicincincinnati.com/site/news/Mile_High_Paavo_Brings_Cincinnati_Symphony_to_Frankfurt.html</a>).</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Unsagbarkeit - Qualia<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Um welche vom Hörer wahrnehmbare Qualitäten wird die musikalische Darbietung bereichert in einer vom „inneren Verstehen“ der Musiker geprägten Interpretation? Wie oben schon angesprochen entziehen sich diese Vorgänge weitgehend der Beschreibung, es ist deshalb in der Literatur gelegentlich die Rede von dem „Topos der Unsagbarkeit“ (engl.: „ineffability“). Die Objekte des Unsagbaren werden als „Qualia“ bezeichnet und sind Gegenstand einiger Untersuchungen. „<span lang="EN-GB" style="mso-ansi-language: EN-GB">Quales are those qualities of immediate human experience which cannot be conceptualized and are of private, individual, irreproducible and antilexical nature, such as colors, sounds, hunger, anger, sadness, or happiness. Raffman [in Raffman, D.: Language, Music and Mind, 1993] argues that musical experience is strongly related to quales and therefore shares strongly ineffable characteristics” (Mazzola, G.: The topos of music: geometric logic of concepts, theory and performance, Basel 2002, S. 693).<o:p></o:p></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span lang="EN-GB" style="mso-ansi-language: EN-GB"><o:p> </o:p></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal"><span lang="EN-GB" style="mso-ansi-language:EN-GB">Innerlichkeit</span><o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Das Vorhandensein „unsagbarer“ Qualitäten in einer Musikdarbietung also scheint eine wichtige Voraussetzung zu sein dafür, dass die Hörer innerlich berührt werden können von der Interpretation. Soll es aber zu einer Intensivierung dieser innerlichen Berührung kommen, muss darüber hinaus das hinzutreten, was Holger Schäfer mit dem Begriff „Innerlichkeit“ mit ins Spiel bringt, es muss beim Hörer der Eindruck entstehen, dass diese Qualia-Qualitäten nicht etwa nur als einstudierte Gesten in die Darbietung eingebracht werden, sondern im Moment der Darbietung auch tatsächlich vom Künstler empfunden werden. Übersteigt die vom Künstler eingebrachte und den Hörern übermittelte Empfindung dann in erheblichen Maße das, was die Hörer in ihrem normalen Leben an Empfindungs-Intensität erleben, so kann es in manchen Fällen tatsächlich zu einer „Erschütterung“ des Hörers durch die Musik kommen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Inspiration<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Tatsächlich verkürzt die in dem Artikel wiedergegebene Argumentation Holger Schäfers den Sachverhalt um einen wichtigen Punkt: „Das Profil, die Konzentration auf die Intonation eines einzelnen Tons, immer weniger wichtig zu nehmen“ – das findet keineswegs exklusiv im Chorgesang, im Folk und im Minnesang statt, sondern das ist ganz generell ein wichtiger Bestandteil des in der Musikdarbietung so wichtigen Vorgangs der Inspiration, ohne den eine gute Interpretation gar nicht stattfinden kann. Die Konzentration auf einzelne technische Probleme der Interpretation hat stattzufinden in den Proben und nur eben eine entsprechende Vorbereitung und Probenarbeit kann im Moment der Darbietung die Inspiration ermöglichen, denn diese ist nur möglich im Zustand der gedanklichen und innerlichen Ablösung von solchen technischen Aspekten. Auf diesen inspirierten Zustand sollte im Idealfall das innige Musik machen aufsetzen und ihn, wie oben beschrieben, um die spirituelle Dimension bereichern.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Resümee<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Aber vielleicht ist das anders in der Szene der mittelalterlichen Musik, in der sich durchaus einige Musiker finden, die man aus der Sichtweise der klassischen Musik als Liebhaber bezeichnen würde. Holger Schäfer hingegen, das lassen die kurzen Ausschnitte in den Videos deutlich erkennen, macht zweifellos auf professionelle Weise Musik – und dazu dürften auch gründliche Proben gehören. Seine Eigenart, die ihn wohl der klassischen Musik entfremdet hat und ihn im Minnesang eine neue musikalische Heimat finden ließ, dürfte der hohe Stellenwert der Spiritualität sein, mit der er seine Zuhörer im Minnesang in seinen Bann zu ziehen versteht.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:-.3pt;margin-bottom: 0cm;margin-left:0cm;margin-bottom:.0001pt">Die klassische Musikszene wiederum weiß mit solcher Gewichtung von Begabung und Fähigkeiten nicht immer gut umzugehen. In erheblichem Maße stehen hier die Beherrschung des Technischen sowie die Perfektion bei der Darbietung im Vordergrund. Während diesbezüglich in der Musikausbildung eine wichtige Rolle spielt, dass sich diese Faktoren eben gewissermaßen messen lassen und auf diese Weise eine „objektive“ Bewertung zu ermöglichen scheinen, dürfte auf Seiten des Publikums bei einigen Hörern auch eine Scheu vor allzu bewegenden Darbietungen, sowie bei manchen Kritikern ein weit gehender Intellektualismus zu einer manchmal erstaunlich positiven Bewertung wenig bewegender Musikdarbietungen führen.</p>Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-9038453703103871342009-06-16T22:56:00.002+02:002009-06-16T23:38:32.885+02:00Nikischs Interpretation des 1. Satzes von Beethovens 5. Symphonie<!--StartFragment--> <p class="MsoNormal" align="right" style="margin-top:12.0pt;text-align:right; mso-outline-level:1">© Gernot von Schultzendorff 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;mso-outline-level:1">POST vom 16. 6. 2009</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Beethoven: Sinfonie Nr. 5 c-moll op. 67, 1. Satz<br />Aufnahme mit dem Berliner Philharmonischen Orchester unter Arthur Nikisch (1913)<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /><span style="font-size:10.0pt;font-family:Arial;mso-bidi-font-family:Arial"><object width="480" height="385"><param name="movie" value="http://www.youtube.com/v/SFY1s6y6r5M&hl=de&fs=1&rel=0&color1=0x2b405b&color2=0x6b8ab6"></param><param name="allowFullScreen" value="true"></param><param name="allowscriptaccess" value="always"></param><embed src="http://www.youtube.com/v/SFY1s6y6r5M&hl=de&fs=1&rel=0&color1=0x2b405b&color2=0x6b8ab6" type="application/x-shockwave-flash" allowscriptaccess="always" allowfullscreen="true" width="480" height="385"></embed></object></span></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Für diesen Beitrag habe ich eine <b style="mso-bidi-font-weight:normal">klangliche Bearbeitung der Aufnahme </b>angefertigt, die deutlich weniger dünn als das Audio auf YouTube klingt. Diese Bearbeitung kann man hören unter <a href="http://www.ourmedia.org/media/beethoven-5-sinfonie-1-satz-berliner-philh-nikischeqd">http://www.ourmedia.org/media/beethoven-5-sinfonie-1-satz-berliner-philh-nikischeqd</a>.</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Vergleichsaufnahmen:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:0cm;margin-bottom: 0cm;margin-left:35.4pt;margin-bottom:.0001pt"></p><ul><li>Furtwängler, Berliner Philharmoniker (<a href="http://www.youtube.com/watch?v=iqrvcv1irFQ">http://www.youtube.com/watch?v=iqrvcv1irFQ</a>)<br /></li><li>Karajan, Berliner Philharmoniker (1984)<br /></li><li>Harnoncourt, Chamber Orchestra of Europe (1991)</li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Themen:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;margin-right:0cm;margin-bottom: 0cm;margin-left:35.4pt;margin-bottom:.0001pt"></p><ul><li>Vor der interpretatorischen Zeitenwende</li><li>Das Schicksalsmotiv<br /></li><li>Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel<br /></li><li>Verschiedene Arten von Accelerando<br /></li><li>Seitenthema<br /></li><li>Oboensolo<br /></li><li>Dokument des Übergangs in den Interpretationsstilen<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold;">Vor der interpretatorischen Zeitenwende</span></p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Der 1. Weltkrieg stellt sich im Rückblick als eine Art Zeitenwende der musikalischen Interpretation dar. Hermann Scherchen spricht einerseits davon, dass die Musik nach 1918 „den Einbruch des sogenannten ‹sachlichen Aufführungsstils›, einer Musizierweise, die sich damit begnügte, nur das zu spielen, was genau vorgeschrieben war“, […] „erlitt“ (Die Kunst des Dirigierens, S. 229). Andererseits schreibt er: „Bis 1914 überboten sich ‹Instrumental- wie Taktstock-Virtuosen› in persönlichen Interpretationen. […] In diese Zeit hinein kommt das Phänomen Toscanini mit der strikten Forderung, sich nur an den Text des Komponisten zu halten, dessen Tempi nicht abzuändern und die Dynamik nicht völlig unzugestalten. Nach 1918 wurde diese Forderung Toscaninis über Nacht verbindlich für das musikalische Reproduzieren“ (S. 230).</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Sieht man den jeweiligen Interpretationsstil einer Epoche auch als Ausdruck eines Zeitgeistes, so wird die musikalische Interpretation in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg geprägt von dem Vordringen der Naturwissenschaften und von dem Glauben, man könne eine geordnete Struktur für die Welt finden.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Nikischs Aufnahme der 5. Sinfonie Beethovens mit den Berliner Philharmonikern ist offenbar das einzige Dokument einer Interpretation eines großen sinfonischen Werkes aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Hat man sich an den für heutige Ohren unbefriedigenden Klang gewöhnt, werden Interpretationsweisen erkennbar, die seit vielen Jahren zum Teil ungebräuchlich oder verpönt, oft aber einfach in Vergessenheit geraten sind. Auf ihre Weise ebenso zeitgebunden wie die heutigen Interpretationsstile, können sie in manchen Fällen Facetten der Werke sichtbar machen, die auf andere Weise nicht darstellbar sind. Ein paar dieser Aspekte sollen hier im Interpretationsvergleich diskutiert werden.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt;page-break-after:avoid"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Das Schicksalsmotiv<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Bereits in der Spielweise des „Schicksals“-Motivs zu Beginn des Werkes (in den ersten 4 Takten) liegen Welten zwischen den verschiedenen hier betrachteten Interpretationen:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Harnoncourt nimmt am stärksten die Aufmerksamkeit weg von dem berühmten, aber auch arg überstrapazierten Stückanfang, die ganzen ersten 4 Takte hören sich bei ihm an wie ein Auftakt zu dem Folgenden.<br /></li><li>Die 3 Achtel jeweils vor der Fermate verlaufen bei Furtwängler und Harnoncourt gleichmäßig, während man bei Nikisch eine, wie ich finde, <b style="mso-bidi-font-weight:normal">merkliche Verzögerung auf dem ersten Achtel </b>hört, von der sich bei Karajan (falls ein interpretationshistorischer Zusammenhang besteht) noch eine Andeutung erhalten hat.<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Bei Karajan nun wird diese Fermate sehr früh gespielt, die beschriebene Verzögerung des ersten Achtels stellt sich dadurch in einem Kontext dar, der wie eine Beschleunigung innerhalb des Motivs wirkt, die durch den sehr frühen Anschluss der Wiederholung des Motivs noch verstärkt wird. Nikisch hingegen platziert die Fermate an der zu erwartenden Stelle, wirkt also wenig vorwärtsdrängend, und er kostet die Fermate fast bis zum Äußersten aus. Diese Anfangstakte haben bei ihm ein viel stärkeres Eigenleben als in den anderen, späteren Interpretationen. </p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Nicht nur unterscheiden sich die Grundtempi der betrachteten Aufnahmen (Karajan und Harnoncourt lassen tendenziell schnell, Furtwängler und Nikisch hingegen langsam spielen), in erheblichem Maße unterschiedlich sind sie auch in ihrem Umgang mit Tempomodifikationen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Natürlich gibt es einen Konsens unter allen ernst zu nehmenden Musikern, dass Metronomangaben nicht strikt auf alle Takte der mit ihnen bezeichneten Sätze oder Satzteile eines Werkes angewendet werden können und sollen. Oft wird das Seitenthema in einem veränderten Tempo gespielt, innerhalb eines musikalischen Bogens gibt es mehr oder minder fließende Tempoveränderungen, die als natürlich und lebendig wahrgenommen werden. David Epstein beschreibt dies in <i style="mso-bidi-font-style: normal">Shaping Time</i>: „No sensitive musician will play a work adhering rigidly to a metronomic beat. The ebb and flow of musical tensions foster small distensions and contractions of the pulse, as well as more extreme rubati in appropriate moments“ (S. 103). In aller Regel ist eine Art von Grundtempo vorhanden, das als Ausgangspunkt dient, zu dem an bestimmten Stellen wieder zurückgekehrt wird und welches der Bezugspunkt ist für Modifikationen des Tempos an bestimmten Orten der musikalischen Struktur.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Deutlich anders aber stellt sich der Umgang mit dem Tempo in Nikischs hier untersuchter Interpretation dar. Auf höchst virtuose und äußerst musikalische Weise ist die ständige Variation des Tempos das Hauptausdrucksmittel dieser Darbietung. Fast scheint es, als würde Nikisch den Harmoniewechseln in der Komposition und dem Wechsel der Formteile mit seinen Tempoveränderungen ein gleichwertiges interpretatorisches Pendant an die Seite stellen.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Nun ist es durchaus auch heute gängige Praxis vieler Interpreten, über die in dem Epstein-Zitat beschriebenen Tempoänderungen als Folge von Spannungsverläufen hinaus den Hörer auf bestimmte Stellen einer Komposition durch eine leichte Tempomodifikation aufmerksam zu machen. Finden solche Modifikationen nicht statt, kann manchmal der Eindruck entstehen, der Interpret „überspiele“ die betreffende Stelle.<span style="mso-spacerun: yes"> </span>Aber dieses Mittel wird doch eher sparsam eingesetzt, während es sich bei Nikisch in dieser Aufnahme um eine durchgängig angewandte Interpretationsweise handelt.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Nikischs Umgang mit den Tempomodifikationen lässt eine alles andere als willkürliche Tempo-„Architektur“ entstehen, vergleichbar der kompositorischen Architektur eines bedeutenden Werkes. Jeder seiner Tempowechsel stellt einen neuen sinnvollen und das Werk erhellenden Bezug nicht nur zu dem jeweils vorangegangenen Tempo, sodern auch zu früheren Tempi her, sei es als Kontrast, als Modifikation oder als Variation. Und obwohl kein Tempo als gleich mit einem anderen empfunden wird, hat der Hörer dennoch den Eindruck eines im Hintergrund wirksamen Grundtempos, das sich aus all den vielen beschriebenen Bezügen klar und deutlich ergibt.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Angesichts des sehr häufigen Vorkommens des „Schicksalsmotives“ in diesem Satz macht Nikischs Interpretationsweise in besonderem Maße Sinn. Durch das zusätzliche Differenzierungsmittel des Tempos gibt es keine Wiederkehr des Motivs, die als Wiederholung wahrgenommen könnte, sondern jede Wiederkehr wird als etwas Neues in der Architektur des Satzes empfunden.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Verschiedene Arten von Accelerando<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Auch in Bezug auf die Spielweise von Accelerandi unterscheiden sich die Interpretationsweisen sehr stark. Als Beispiel soll die Passage vor dem Seitenthema (ab T. 25) verglichen werden:</p><p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Harnoncourt verweigert sich weitgehend einer Beschleunigung, die Spannungserhöhung im Laufe dieser Takte ist bei ihm geradezu das Ergebnis davon, dass den Erwartungen des Hörer auf eine Beschleunigung parallel zum Crescendo nicht stattgegeben wird.<br /></li><li>Bei Nikisch ist ganz umgekehrt die Spannungserhöhung das Ergebnis seiner Beschleunigung; diese findet ganz gleichmäßig über die ganze Passage statt, man könnte sie als „lineares accelerando“ bezeichnen.<br /></li><li>Furtwängler beschleunigt im ersten Teil dieser Passage (p und cresc.) gewissermaßen terassenförmig in Schritten von Viertaktgruppen, im 3. Takt des forte folgt dann noch eine für ihn sehr typische mitten in der Phrase versteckte Beschleunigung.<br /></li><li>Karajan wiederum beschleunigt nur den 2. Teil der Passage (ab dem f in T. 44), und zwar in der eben beschriebenen terassenförmigen Weise, eingeleitet von einem Temposprung.<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Seitenthema<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Indem er vor dem Auftauchen des Seitenthemas nicht beschleunigt hat, gibt es bei Harnoncourt Spielraum für ein Anziehen des Tempos beim Seitenthema selbst. Die Überleitung des Hornes zum Seitenthema ist besonders schnell gespielt, demgegenüber ist das Tempo des Seitenthemas dann wieder etwas zurückgenommen. Als musikalisch völlig organisch kann ich diese Gestaltungsweise allerdings nicht wahrnehmen, und auch die Phrasierung der Seitenthema - Passage, die zuerst die Viertaktgruppen, dann die Zweitaktgruppen stark voneinander absetzt, ist gewöhnungsbedürftig. Ab dem auf das Seitenthema folgenden ff nimmt Harnoncourt sein (etwas schnelleres) Grund- und Anfangstempo wieder auf und verzichtet erneut auf Accelerandi.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Karajan und Furtwängler kehren beim Seitenthema in etwa zurück zu dem Tempo vor der jeweiligen Beschleunigung. Karajan beschleunigt zum Schluss der Exposition hin noch sehr deutlich, während Furtwängler beim für das Seitenthema gewählten Tempo bleibt.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Bei Nikisch hingegen meint man das Seitenthema neu zu hören. Nach einer (spiegelbildlich zu Harnoncourts Tempoanlage) deutlich verlangsamten Hornüberleitung liegt sein Tempo für das Seitenthema etwas über dem Tempo, wie wir es zu Beginn der dem Seitenthema vorangehenden Beschleunigung gehört haben, und die eigene Individualität, die das Seitenthema durch eben diese Tempogestaltung gewinnt, gibt ihm (aus meiner Sicht) Freiraum zu einer Entfaltung, die ihm ganz gemäß zu sein scheint. Nikisch führt die Exposition anschließend mit einer erneut weit angelegten und gleichmäßigen Beschleunigung zu Ende.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal"><o:p> </o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Oboensolo<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Auch mit dem Oboensolo am Übergang zur Reprise wird in den hier betrachteten Interpretationen in sehr unterschiedlicher Weise verfahren:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"></p><ul><li>Erneut gelingt es Harnoncourt, aus überraschend gleichmäßigem Tempo eine starke musikalische Wirkung zu erzeugen. Allerdings irritiert er viele Hörer mit seiner Behandlung der vorangegangenen Fermaten, die fast überhaupt nicht ausgehalten werden.<br /></li><li>Karajans starke Verlangsamung vor dem Oboensolo wirkt konventionell und nimmt der eigentlich sehr schön gespielten Passage einiges von ihrer Wirkung.<br /></li><li>Am wenigsten Eigenleben scheint das Oboensolo bei Furtwängler zu haben, da drumherum interpretatorisch bereits so viel passiert; auch Furtwängler leitet es mit einem konventioll wirkenden Ritardando ein.<br /></li><li>Nikisch lässt bereits ab den Fermaten wenige Takte vor dem Oboensolo ein langsames Tempo spielen und kommt deshalb vor dem Oboensolo selbst mit einem geringen Ritardando aus. Da er auch nach dem Oboensolo nur allmählich das Tempo wieder aufnimmt, scheint es, als habe dieses Solo viel mehr als in den anderen Interpretationen seinen eigenen Raum; die Zusammenhänge mit den anderen Teilen des Satzes wirken in diesem Moment fast wie ausgeblendet.<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Dokument des Übergangs in den Interpretationsstilen</b></p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Kann man davon sprechen, dass Nikischs Interpretation bezüglich der Tempogestaltung typische Charakteristika der Zeit um die Jahrhundertwende und noch früher aufweist? Es gibt Hinweise darauf, dass im 19. Jahrhundert Tempo und Pulsschlag weniger rigide, weniger selbstsicher gespielt wurden als später. Aber einer solchen Beschreibung scheint die von Nikisch geleitete Interpretation nicht zu entsprechen, Tempo und Pulsschlag wirken ja auch nach heutigem Empfinden weitgehend sehr deutlich.</p> <p class="MsoNormal" style="margin-top:12.0pt">Ein Relikt von weniger rigide gespielem Puls finden wir möglicherweise in der am Anfang dieses Artikels beschriebenen Spielweise des Schicksalsmotivs (Verzögerung auf der ersten Note). Insgesamt jedoch hören wir in dieser Interpretation wahrscheinlich bereits die Zeichen eines Übergangs zwischen größeren Interpretationsepochen, in dem einerseits Tempo und Puls bereits deutlich markiert werden, andererseits sich aber noch starke Reste einer bezüglich des Tempos sehr freien (wiewohl bei Nikisch musikalisch enorm logischen) Spielweise erhalten haben.</p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-24299153688609815102009-05-26T18:58:00.003+02:002009-07-20T14:41:51.316+02:00Uchida, Schumann op. 17, Webern op. 27, interpretatorische Abfärbungen<!--StartFragment--> <div class="Section1"> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"></p><div class="Section1"><p class="MsoNormal" align="right" style="text-align: right; ">© Gernot von Schultzendorff 2009</p></div><span style="font-family: Cambria; font-family:";font-size:12.0pt;"></span><span style="font-family: Cambria; font-family:";font-size:12.0pt;"></span><p></p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1">BLOG vom 18. 5. 2009</p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><br /></p></div> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Klavierabend Mitsuko Uchida im Großen Sendesaal des NDR in Hannover am 16.5.2009<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal"><o:p> </o:p></b></p> <p class="MsoNormal">Programm</p> <p class="MsoNormal"></p><ul><li>Mozart: Rondo Nr. 3 a-moll KV 511<br /></li><li>Webern: Variationen Op. 27<br /></li><li>Beethoven: Sonate Nr. 28 A-Dur op. 101<br /></li><li>Schumann: Fantasie C-Dur op. 17</li></ul><p></p> <p class="MsoNormal">Daran anknüpfendes Thema:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>Programm-Bezüge und interpretatorische Abfärbungen<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal">Auch und gerade große Künstler sind zum Glück keine Computer, weiterhin ist die Inspiration ein sehr menschlicher Faktor. War man in der Pause von Mitsuko Uchidas Klavierabend in zwar gehobener, aber keineswegs überwältigter Stimmung, so sprang der Funke zwischen Künstler und Publikum in der 2. Konzerthälfte mit der Schumann-Fantasie in einem Maße über, das den Abend zu einem überaus gelungenen machte. </p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Schumann: Fantasie C-Dur op. 17<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal">[Vergleichsaufnahme:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>Wilhelm Kempff (1957, Mono)]</li></ul><p></p> <p class="MsoNormal">In Uchidas Interpretation stand die Musik in einer Weise im Vordergrund, die zur Pflicht erklärt werden sollte in der musikalischen Interpretation. Gerade diese Komposition kann ungemein in Mitleidenschaft gezogen werden durch die Folgen von Strategien, mit denen falsche Töne auf Kosten musikalischer Erfordernisse vermieden werden sollen. Insbesondere in der Stretta des 2. Satzes kann nur ein hoher Kontrast des neuen Tempos zur vorangehenden Passage („Viel bewegter“) den Schumannschen Intentionen und dem miterlebenden Verständnis der Hörer gerecht werden kann; aber auch die Beachtung der von Schumann vorgegebenen starken dynamischen Kontraste bedeutet stets ein Risiko, das es einzugehen gilt auf Kosten einer Perfektion, die hier nur eine nachgeordnete Rolle spielen darf.</p> <p class="MsoNormal">Wunderbar war der Umgang mit den vielen delikaten Harmoniewechseln und Modulationen, von Uchida auf das Schönste ausgehört dargeboten, ohne dass sie sich dabei auch nur im Geringsten verselbständigten. Wunderbar war auch die einfache Akkordbrechung gespielt, das Haupt-„Thema“ des dritten Satzes; als Begleitungsfigur aus zahllosen italienischen Arien bekannt wird sie in diesem Satz zum eigentlichen Inhalt der Musik, furios zum Schluss hin gesteigert, und es war faszinierend, die unendlichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten dieser von Schumann wie von der Interpretin so abwechlungsreich behandelten Akkordbrechung mitzuerleben.</p> <p class="MsoNormal">Verständlich war auch in hohem Maße das Metrum, das dem Hörer so leicht auf die falschen Zählzeiten verrutscht in vielen Passagen dieses Werkes, wenn die Interpretation dem nicht vorbeugt; wie leicht können wichtige Abschnitte der Musik für das Publikum im Grunde unverständlich und das Miterleben dann auf das Mitempfinden einer allgemeinen Leidenschaftlichkeit reduziert werden.</p> <p class="MsoNormal">Diese Leidenschaftlichkeit selbst, die Grundstimmung dieses Werkes, sie kann gar nicht intensiv genug dargestellt werden, und Uchida blieb den Hörern auch in dieser Hinsicht nichts schuldig. Und sie langte in die Tasten, in der Schlussphase des 2. Satzes zumal, dass man fast dachte, es wäre des Guten zuviel, aber Schumann hat hier, indem die von ihm vorgegebene Dynamik zwischen ff und fff schwankt, eben dies notiert.</p> <p class="MsoNormal">Wie verschieden demgegenüber die Aufnahme von Wilhelm Kempff: In einem für einen bedeutenden Künstler doch sehr seltenen Ausmaß kümmert er sich herzlich wenig um eine dem Werk gerecht werdende Interpretation, nur die weite Dynamik steht auf einem<span style="mso-spacerun: yes"> </span>interpretatorischen Niveau, das dem von Uchida in diesem Werk vergleichbar ist. Enttäuschend auch seine Behandlung der Duolen und Quartolen im 3. Satz, sie sind bei ihm so gar nicht zu unterscheiden von ganz normalen Achteln, wo sie doch über von den der linken Hand gespielten 3 Achtel-Gruppen quasi zu schweben hätten. Generationsbedingt ist dies nicht unbedingt: Viele großartige Schumann-Interpretationen, allerdings mit einem gewissen Schwerpunkt im Liedgesang, verdanken wir Künstlern seiner Zeit.</p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Programm-Bezüge und interpretatorische Abfärbungen </b></p> <p class="MsoNormal">Selten nur trifft man auf Konzertprogramme mit so interessanten wie geheimnisvollen Bezügen zwischen den Stücken wie in diesem Recital Uchidas, so verschieden die Musikstile und die Epochen der Entstehung der Werke auch sein mögen. Eine besonders interessante Erfahrung für die Hörer ist dabei, welche interpretatorischen Veränderungen mit den Stücken vorgehen können, wenn die Stücke in ihrer Zusammenstellung nicht nur für sich stehen, sondern wenn sich Zusammenhänge zwischen ihnen in Inhalt oder Geist herausstellen.</p> <p class="MsoNormal">So war in diesem Konzert die Interpretation der Sonate op. 101 von Beethoven durch Mitsuko Uchida durchaus ein Pausengespräch, und die Erstaunlichkeit, ja fast sogar Rätselhaftigkeit ihrer Darstellung fand erst in der zweiten Konzerthälfte ihre Auflösung. Denn Uchidas Beethoven-Interpretation an diesem Abend stand durchaus in deutlichem Gegensatz zu ihren Beethoven-Aufnahmen; insbesondere solche stark zerfließenden, ineinander übergehenden und wenig kontrastierten Tempi findet man dort höchstens in zarten Ansätzen. „Der Beethoven“ dieses Abends hingegen deutete, wie sich herausstellte, eben schon hin auf das Hauptwerk des Programms, auf den Schumann, und gerade dieser auch interpretatorische Bezug war eines der besonderen, noch lange in der Erinnerung bleibenden Hörerlebnisse.</p> <p class="MsoNormal">Dabei fragt man sich, ob es sich bei einer solchen interpretatorischen Abfärbung um einen von der Künstlerin gewollten oder eher um einen unbewussten Vorgang handelt. In Erinnerung kommen mir Konzerterlebnisse mit Vladimir Horowitz, bei denen die Konzerthälften aus ziemlich bunt gemischten Programmen bestanden, denen dieser Virtuose jeweils einen bestimmten musikalisch-technischen Aspekt, etwa eine bestimmte Klangfarbe, überstülpte. So atemberaubend und erstaunlich diese Kunst Horowitz` auch war, ist im Grunde die inhaltliche Abfärbung interpretatorischer Aspekte, wie bei Uchida erlebt, musikalisch doch sehr viel ergiebiger, und es war im Nachhinein äußerst interessant erlebt zu haben, wie, wohlgemerkt: innerhalb eines Konzertprogramms, eine Beethoven-Sonate aus dem Geiste Schumanns sich darstellt.</p><p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Webern: Variationen op. 27<span class="Apple-style-span" style="font-weight: normal; "> </span></b></p> <p class="MsoNormal">Vergleichsaufnahmen:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>Maurizio Pollini (1976)<br /></li><li>Glenn Gould (Video: <a href="http://vids.myspace.com/index.cfm?fuseaction=vids.individual&VideoID=26637662">http://vids.myspace.com/index.cfm?fuseaction=vids.individual&VideoID=26637662</a>)<br /></li><li>Krystian Zimerman <br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal">Alle überlieferten Zeugnisse und Berichte sowie auch die erstaunliche Aufnahme mit Webern als Dirigenten des Bergschen Violinkonzerts deuten darauf hin, dass seine Musik mit allergrößter Intensität, Leidenschaft und Expressivität zu spielen ist. Offenbar kann man ihr kaum weniger gerecht werden als mit einer „werktreuen“ Interpretation. Zwei Zitate mögen dies belegen.</p> <p class="MsoNormal"></p><ul><li>Peter Heyworth (ed.): Conversations with Klemperer, S. 94<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-left:35.4pt">Klemperer: „I conducted his [Webern`s] symphony in Berlin as well as in Vienna. But I couldn`t find my way into it. I found it terribly boring. So I asked Webern – I was staying in Vienna – to come and play it to me on the piano. Then perhaps I would understand it better. He came and played every note with enormous intensity and fanaticism.“</p> <p class="MsoNormal" style="margin-left:35.4pt">Heyworth: „ Not coolly?“</p> <p class="MsoNormal" style="margin-left:35.4pt">Klemperer: „No, passionately! When he had finished, I said, ‘You know, I cannot conduct it in that way. I`m simply not able to bring that enormous intensity to your music. I must do as well as I can.’ “</p> <p class="MsoNormal"></p><ul><li>Peter Stadlen, der Pianist der Uraufführung von op. 27, schreibt in einem Brief vom 16. 10. 1937 über seine Arbeit mit Webern an diesem Werk (aus dem Englischen übersetzt von Walter Kolneder in seinem Buch: Anton Webern, Köln 1961, S. 128/129).<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal" style="margin-left:35.4pt">„Wenn er [Webern] sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch, das auszudrücken, was er die Bedeutung der Musik nannte, war ich erstaunt zu sehen, daß er diese wenigen, für sich allein stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären. Er bezog sich ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempowechsel, um den Anfang eines »neuen gesprochenen Satzes« zu kennzeichnen... Gelegentlich versuchte er, die allgemeine Stimmung eines Stückes aufzuzeigen, indem er das quasi improvisando des ersten Satzes mit einem Intermezzo von Brahms verglich, oder den Scherzocharakter des zweiten mit der Badinerie von Bachs h-moll-Suite, an die er, wie er sagte, bei der Komposition seines Stückes gedacht hatte. Aber die Art, in der dieses aufgeführt werden mußte, war in Weberns Vorstellung genau festgelegt und nie auch nur im geringsten der Stimmung des Augenblicks überlassen... Nicht ein einzigesmal berührte Webern den Reihenaspekt seiner Klaviervariationen. Selbst als ich ihn fragte, lehnte er es ab, mich darin einzuführen - weil es, sagte er, für mich wichtig wäre, zu wissen, wie das Stück gespielt wird, nicht wie es gemacht worden ist. “</p> <p class="MsoNormal">Mitsuko Uchidas Wiedergabe der Variationen op. 27 war adäquat, insbesondere im Zusammenhang dieses sehr überlegt zusammengestellten Konzertprogramms. Jedoch verging die Musik recht schnell, es gab nicht sehr viele Punkte in ihrer Darstellung, an der man als Hörer hängenblieb.</p> <p class="MsoNormal">Maurizio Pollini und Glenn Gould hingegen spielen dieses Werk mit so vielen immanenten Bezügen, Kontrasten, kurz aufblitzenden Gestalten, dass der Hörer mit ihrer Verarbeitung außerordentlich beschäftigt ist und die sehr kurzen Sätze als durchaus lang und enorm inhaltsreich empfindet. Die leidenschaftliche, expressive Komponente ist jedoch auch in diesen Darstellungen keineswegs stark ausgeprägt. Wolfram Goertz beschreibt in seinem Artikel in der ZEIT vom 14.6.2006, (<a href="http://www.zeit.de/2006/25/D-Musikklassiker-25_xml">http://www.zeit.de/2006/25/D-Musikklassiker-25_xml</a>) die (überraschend hallig aufgenommene) Interpretation Krystian Zimermans als „flammend expressiv“, und sicherlich ist sie deutlich expressiver als diejenigen seiner Kollegen Pollini und Gould. Aber was sich alles an Expressivität in diesen 3 Sätzen verbirgt, welche Leidenschaft die kleinsten Figuren, ja einzelne Noten bereits beseelen könnte und sollte, das scheint auch Zimerman nur ansatzweise ans interpretatorische Licht zu bringen.</p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-87237747010127713352009-05-26T18:45:00.004+02:002009-05-26T22:29:23.852+02:00Haydn-Oper, interpretatorische Mittel, "interpretatorisches Mitdenken" der Hörer<!--StartFragment--> <div class="Section1"> <p class="MsoNormal" style="text-align: right;">© Gernot von Schultzendorff 2009<br /></p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1">BLOG vom 14. 5. 2009</p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><img src="http://www.blogger.com/img/blank.gif" alt="Rechtsbündig" border="0" class="gl_align_right" /><br /></p></div> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Die Haydn-Oper „Orlando Paladino“ und Interpretationsfragen</b></p> <p class="MsoNormal"><br /></p><p class="MsoNormal">Rezension der Aufführung an der Berliner Lindenoper (Dirigent: René Jacobs) in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. 5. 2009 von Peter Hagmann. <a href="http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/joseph_haydns_zauberfloete_1.2545570.html"><span class="Apple-style-span" style=""><span class="Apple-style-span" style="color: rgb(51, 102, 255);">http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/joseph_haydns_zauberfloete_1.2545570.html</span></span></a></p> <p class="MsoNormal"><br /></p><p class="MsoNormal">Vergleichsaufnahme:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>Contentus Musicus Wien, Nicolaus Harnoncourt (2006).<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal">Themen:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>Interpretatorische Mittel<br /></li><li>Harmonische Einfachheit<br /></li><li>Der Musik helfen durch die Interpretation, „interpretatorisches Mitdenken“ der Hörer<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal">Es ist Haydn-Jahr, und dieser wunderbare Komponist, dessen Musik im üblichen Konzertbetrieb sonst eher zum Aufwärmen ge- oder gar missbraucht wird, steht häufiger als sonst auch im Mittelpunkt mancher Programmgestaltung. 16 Opern hat er geschrieben, „viele davon wurden in ganz Europa nachgespielt“, wie wir bei Peter Hagmann lesen, aber „heute hat man seine liebe Mühe mit dieser Musik.“ Hagmann schreibt über die Aufführung des <i style="mso-bidi-font-style:normal">Orlando Paladino</i> in Wien vor 2 Jahren, „wo Nikolaus Harnoncourt ein fulminantes, doch letztlich vergebliches Plädoyer für [dieses Werk] hielt“, und von der aktuellen Aufführung in Berlin berichtet er, dem Dirigenten René Jacobs, einem „äußerst kreativen Querdenker, gelänge es vielleicht, die verschlossene Tür aufzustoßen und uns eine Oper von Haydn neu erleben zu lassen. Allein, es blieb bei der Hoffnung.“ </p> <p class="MsoNormal">Was geht hier schief, wenn denn etwas schief geht? Ist es vor allem die Musik, ist sie für den heutigen Hörer zu einfach gestrickt (Hagmann: „ das ist für den Hörer, der die Spätromantik und ihre Chromatik bis hin zur Auflösung der Tonalität in sich hat, nicht einfach aufzunehmen“)? Oder liegt es mehr an den Interpretationen, auch diese Spur verfolgt Hagmann. Jedoch die Spielweise des in Berlin spielenden Freiburger Barockorchesters unter René Jacobs wird von ihm gerühmt, nicht nur in klanglicher Hinsicht: „ belebte, auch vielfach nuancierte Tempi, […] geschmeidige Artikulation und deutliche Akzentsetzung“.</p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Interpretatorische Mittel<span class="Apple-style-span" style="font-weight: normal; "> </span></b></p> <p class="MsoNormal">Ist es dennoch denkbar, dass diese Musik mit den heute üblichen interpretatorischen Mitteln nicht in der richtigen Weise zum Leben gebracht wird? Es gibt andere Komponisten, deren Musik es auch schwer hat heutzutage, Gluck und Carl Philipp Emanuel Bach beispielsweise, bei denen mein Eindruck ist, dass viele ihrer Werke nur mit einer permanenten und individuellen hohen Flexibilität des Tempos angemessen zur Geltung kommen, wie sie (bei Gluck) meines Wissens vor allem Mark Minkowski verwirklicht.</p> <p class="MsoNormal">Aber die Tempogestaltung bei <i style="mso-bidi-font-style: normal">Orlando Paladino </i>erscheint angemessen, Hagmann berichtet es aus Berlin, und auch die Aufnahme Harnoncourts wird diesem interpretatorischen Aspekt in hohem Maße gerecht. Überhaupt glaube ich, dass Harnoncourt mit seiner Interpretation absolut in die richtige Richtung geht, aber in vielerlei Hinsicht noch längst nicht weit genug.</p> <p class="MsoNormal">Da sind die theatralischen Effekte: Kann das nicht noch viel mehr überwältigen, den Hörer völlig atemlos machen? Da ist die Charakterisierung einzelner Motive: Kann die nicht noch viel individueller sein einerseits, und noch viel vielfältiger andererseits, jedesmal wieder etwas anders, wenn das Motiv erneut auftaucht oder sich wiederholt? Innerhalb dieser Charakterisierung scheint mir noch eine ganze Dimension an Schattierungsmöglichkeiten ungenutzt zu sein, in der dann jeder Ton mit seiner ganz eigenen dynamischen und mikrozeitlichen Nuancierung beiträgt zu einer Darstellungsweise, bei der der Hörer in jedem Moment gar nicht anders kann als gebannt zuzuhören.</p> <p class="MsoNormal">Die historische Aufführungspraxis hat in vielerlei Hinsicht wiederentdeckt, wie die barocken und frühklassischen Rhythmen zu spielen und zu artikulieren sind, damit die Charaktere dieser Musik in lebendiger Weise zur Geltung kommen. Jedoch dauert die interpretatorische Entwicklung noch an, vielleicht steht sie sogar noch recht weit an ihrem Anfang, was die Individualisierung dieser Lebendigkeit betrifft, hinsichtlich ihrer Intensität ebenso wie hinsichtlich ihrer Feinzeichnung.</p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Harmonische Einfachheit<span class="Apple-style-span" style="font-weight: normal; "> </span></b></p> <p class="MsoNormal">Einen wichtigen Aspekt beschreibt Hagmann in seiner Rezension ausführlich: „Zur Hauptsache liegt die Schwierigkeit aber doch in der Musik selbst, zum Beispiel in ihrer harmonischen Einfachheit“. Wenn das so ist, wie können Musiker damit heutzutage sinnvoll umgehen?</p> <p class="MsoNormal">Glenn Gould, auch ein wichtiger Haydn-Interpret (auf dem Gebiet der Klaviersonaten), entwickelt zu dieser Frage seine „Theorie der modulatorischen Distanz“ (in: <i style="mso-bidi-font-style:normal">Von Mozart und verwandten Dingen</i>). Kurzgefasst: er verneint darin die Notwendigkeit, eine neunhundertneunzigmal gehörte Modulation interpretatorisch zu überhöhen, er möchte eine solche Überhöhung aufsparen für die „magischen Momente“ in ganz besonderen Kompositionen.</p> <p class="MsoNormal">Aber um solche Überhöhungen geht es gar nicht unbedingt im Umgang mit für heutige Ohren harmonisch einfach gestrickter Musik, Goulds eigenes Beispiel hierfür entstammt einer Beethoven-Sonate. Und natürlich kann eine Interpretation, die ihre Hörer immer wieder darauf stößt, wie einfach die Musik doch gebaut ist (Glenn Gould tut das auch nur manchmal, und bei ihm ist es natürlich trotzdem interessant zuzuhören, weil er einfach ständig musikalisch faszinierend spielt), nicht auf Dauer mit großem Interesse seitens der Hörerschaft rechnen.</p> <p class="MsoNormal">In einer Opernaufführung, da können solche intellektuellen Überlegungen doch normalerweise keine Rolle spielen! Muss es nicht für einen Vollblutmusiker eine ständige Herausforderung sein, all den Harmoniewechseln und Modulationen die größtmögliche Sorgfalt und Fantasie angedeihen zu lassen, müsste nicht jede Modulation aufregender gestaltet sein als die vorige, dabei selbstredend den harmonischen Gesamtzusammenhang beachtend? Ich glaube nicht, dass unsere Ohren, wiewohl durch die Hörerfahrungen der Spätromantik gegangen, die Haydnschen Harmonien und Modulationen nicht mehr wirklich interessant und aufregend finden können. Aber diese Harmonien wirken, jedenfalls für unsere Ohren, nicht ganz von selbst, man kann nicht sagen, dass der Interpret nachhelfen muss, aber er muss, das ist seine Aufgabe, ihre jeweilige Individualität immer wieder neu suchen, finden und darstellen.</p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="page-break-after:avoid"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Der Musik helfen durch die Interpretation, „interpretatorisches Mitdenken“ der Hörer</b></p> <p class="MsoNormal">Es gibt Musik, von der man sagt, sie sei „nicht kaputt zu kriegen“. Und auf der anderen Seite gibt es Musik, die kommt offenbar nur unter besonders glücklichen interpretatorischen Umständen zu einer ihr gemäßen Geltung und Wirkung.</p> <p class="MsoNormal">Aber ich habe da meine Zweifel an solchen Feststellungen, und wenn sie denn so stimmen sollten, stimmen sie nur für die jeweilige historische Konstellation. Zu berücksichtigen sind in einem bestimmten historischen Moment zum einen stets die interpretatorischen Gewohnheiten, zum anderen immer auch die Hörgewohnheiten, welche Musik also viel gehört wird und mit welcher Spielweise sie gehört wird. Da gibt es historische Entwicklungen und Verschiebungen, bei den Spielweisen ebenso wie bei den Hörweisen, und Jahrzehnte später sieht manches schon ganz anders aus.</p> <p class="MsoNormal">Nur für Musik und Spielweisen, die das Publikum durch häufiges Hören wirklich gut kennt, entwickelt sich eine Art von „interpretatorischem Mitdenken“ von seiten des Publikums. Die Hörer haben, in einem gewissen Rahmen, eine bestimmte Musik in verschiedenen Spielweisen gehört, sind also, meist unbewusst, mit einigen interpretatorischen Spielräumen vertraut. Die auf diese Weise entstandene „mit“-interpretatorische Fantasie wird eingebracht, wenn ein solches bereits gut bekanntes Stück, oder ein Stück mit großer Ähnlichkeit zu gut bekannten Stücken, erneut gehört wird – da ist es dann nicht mehr so wichtig, ob die Interpretation besonders treffend ist, das Stück wird trotzdem gut verstanden, und es mag für manchen Hörer sogar wünschenswert sein, wenn ihm eine eher neutrale Interpretation die Freiheit des interpretatorischen Mitdenkens lässt.</p> <p class="MsoNormal">Ganz anders ist es bei Musik, bei der die ihr gemäße Interpretationsweise den Hörern weitgehend unbekannt ist. Wird diese Musik nicht charakteristisch genug gespielt, geht sie am Aufnahmevermögen der Hörer schlichtweg vorbei. Ja sie muss sogar zunächst übercharakteristisch gespielt werden, denn die Hörer müssen ja sozusagen erst lernen, wie diese Musik zu hören ist, die entsprechenden Wahrnehmungsstrukturen beim Hörer müssen erst, mit einem aktuellen neurophysiologischen Begriff ausgedrückt, „gebahnt“ werden.</p> <p class="MsoNormal">Peter Hagmann scheint dies zu ahnen, seine Hoffnung, Haydnsche Opernmusik adäquat interpretiert zu hören, ist aber, auf höchstem Niveau, weder in Wien noch in Berlin erfüllt worden. Es erscheint mir wahrscheinlich, dass wir nur noch ein paar Jahre zu warten brauchen. So wie kaum jemand vor 30 Jahren mit der heutigen Popularität von Händel-Opern gerechnet hätte, so ist auch von einer zukünftigen Renaissance der Haydn-Opern auszugehen, denn die Kunst der Interpretation scheint sich derzeit in eine Richtung zu entwickeln, die ihnen gemäß ist.</p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-30657864265718570272009-05-26T18:13:00.001+02:002009-05-29T11:03:04.248+02:00Prokofiev 1. Vl.kz., Bartok Konzert für Orchester, Bartok Sprachcharakter und Idiom, Mercatorhalle Duisburg<!--StartFragment--> <div class="Section1"> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"></p><div class="Section1"><p class="MsoNormal" align="right" style="text-align: right; ">© Gernot von Schultzendorff 2009</p></div><p></p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1">BLOG vom 26.4.2009</p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><br /></p></div> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal">Konzert des WDR Sinfonieorchesters Köln in der Mercatorhalle Duisburg am 25.4.2009<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Solistin: Alina Pogostkina, Violine<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Dirigent: Thomas Hengelbrock</b></p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><span class="Apple-style-span" style="font-weight: bold;"><br /></span></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1">Programm</p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"></p><ul><li>J. Haydn: Sinfonie C-Dur Hob. I:60 „Il Distratto“<br /></li><li>S. Prokofiev: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19<br /></li><li>B. Bartók: Konzert für Orchester</li></ul> <p class="MsoNormal">Daran anknüpfende Themen:</p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"></p><ul><li>Interpretation und das Üben etüdenähnlicher Passagen<br /></li><li>Sprachcharakter und Idiom bei Bartók<br /></li><li>Akustik der Mercatorhalle Duisburg<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal">Ein eindrucksvolles Konzert von Seiten des Orchesters und des Dirigenten, mit einer Solistin, bei der das hohe technische Können den musikalischen Ertrag überwog. </p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Haydn: Sinfonie „Il Distratto“</b></p> <p class="MsoNormal">Das Publikum hörte eine rundum erfreuliche und lebendige Darbietung, bei der wieder deutlich wurde, in welch fruchtbarer Weise die historische Aufführungspraxis, in der Thomas Hengelbrock fest verwurzelt ist, mittlerweile auch von den traditionellen Orchestern angenommen wird. Die Streicherbesetzung war deutlich reduziert gegenüber den beiden folgenden Werken, jedoch immer noch recht groß; eine kluge Disposition, denn der volle Klang ging eine glückliche Verbindung mit dem für dieses Werk recht üppigen Nachhall des Saales ein. Eine den guten Gesamteindruck keineswegs trübende Kritik betrifft die in diesem ersten Stück nicht immer perfekten Hörner sowie die Abschlüsse einiger Phrasen und Formteile, die nicht immer gänzlich homogen und einheitlich wirkten.</p> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Prokofiev: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal">[Vergleichsaufnahme:</p> <p class="MsoNormal"></p><ul><li>Julia Fischer mit dem Russian National Orchestra unter Yakov Kreizberg (2004)]<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal">Orchester und Solistin verliehen diesem selten gespielten Werk einen äußerst spannungsreichen und klangfarblich eindrucksvollen Beginn. Alina Pogostkina bot in technischer Hinsicht eine hervorragende Leistung, wurde in der Folge jedoch den musikalischen Anforderungen dieser sehr abwechslungsreichen und vielgestaltigen Komposition nicht mehr in vollem Umfang gerecht. Sie ging in nur geringem Maß auf die vielen musikalischen Facetten des Konzertes ein, stattdessen wirkte ihr Spiel über längere Passagen eingeebnet und leider etüdenhaft. Auch war ihr Spiel in mehreren Passagen ein kleines Stück schneller als von Dirigent und Orchester, auf jene eher subtile Weise, die entsteht, wenn schnelle Passagen in unterschiedlichem Maße musikalisch erfüllt sind.</p> <p class="MsoNormal">Dieses großartige Werk spielt sich keineswegs von selbst, die Interpreten müssen sich auf seine vielen Charaktere einlassen und sie, auch in idiomatischer Hinsicht, zur Geltung bringen. Dirigent und Orchester boten eine gute Leistung, die sich an die Spielweise der Solistin im erforderlichen Umfang anpasste.</p> <p class="MsoNormal">Julia Fischers Einspielung, ihre erste große Aufnahme (bei Pentatone), könnte beeindruckender nicht sein und muss, auch klanglich sehr gelungen, als Referenzaufnahme dieses Werkes angesehen werden. In jeder noch so kleinen Phrase vibrierend vor Spannung und Musikalität, ist die gesamte Aufnahme mit großem musikalischen Sinn erfüllt und durch ein ideales Verhältnis zwischen Solistin und Orchester, ein gegenseitiges Verstehen gekennzeichnet.</p> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Interpretation und das Üben von Etüden und etüdenähnlichen Passagen</b></p> <p class="MsoNormal">Man tritt Prokofiev gewiss nicht zu nahe, wenn man die Spielweise mancher Passagen seines 1. Violinkonzerts in Pogostkinas Interpretation als etüdenähnlich bezeichnet; Julia Fischer zeigt ja, wie unglaublich viel großartige Musik in diesen Passagen steckt. Ein Konzerterlebnis wie dieses wirft jedoch erneut die Frage auf, wie die Prioritäten in der Ausbildung junger Musiker gesetzt werden sollten.</p> <p class="MsoNormal">Immer wieder kann man die Meinung hören, zunächst müsse von den Studenten die Technik ihres Instruments gründlich beherrscht werden, dann erst dürfe das Musikmachen in den Vordergrund rücken. Welche Fokussierung auf das Technische! Leider passiert es oft, dass beachtliche musikalische Leistungen junger Musiker bei einer solchen Einstellung nicht recht gewürdigt werden, weil sie äußerlich noch von technischen Problemen überdeckt werden; diese sollen hier keineswegs unter den Tisch gekehrt, aber eben auch nicht dramatisiert werden. Das Musikalische lässt sich allerdings kaum messen, in einer Welt der perfekten Aufnahmen und der Wettbewerbe gerät es leicht aus dem Fokus und ist vielleicht auch manchen Lehrern und Juroren nicht so wichtig.</p> <p class="MsoNormal">Natürlich stehen musikalische und technische Begabung bei Musikern und Musikstudenten nicht immer in dem wünschenswerten ausgewogenen Verhältnis zueinander. Ist aber die technische Begabung ausgeprägter, kann ohnehin nicht früh genug mit der Förderung der Musikalität begonnen werden.</p> <p class="MsoNormal">Denn wie soll das funktionieren: viele Jahre nur technische Übungen absolvieren, dann plötzlich einen Hebel umlegen, und ab diesem Moment wird das Ganze allmählich oder gar plötzlich mit musikalischem Sinn ausgefüllt? Stattdessen sind noch so technische Übungen, auch Tonleitern, im Grunde leichter zu bewältigen, wenn der Student ständig nach Wegen sucht, ihnen nicht nur technisch, sondern auch musikalisch gerecht zu werden. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Motivation: Kann hohe Musikalität jahrelang brachliegen, ohne zu degenerieren? Unbedingt wünschenswert also ist eine parallel verlaufende Entwicklung und Förderung von Technik und Musikalität, die darauf achtet, die Technik stets im Dienste der Musikalität stehen zu lassen.</p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal"><o:p> </o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Bartók: Konzert für Orchester<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal">[Vergleichsaufnahme:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>RSO Berlin, Dirigent: Ferenc Fricsay (Mono, 1953)]<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal">Hengelbrock und das WDR Sinfonieorchester boten eine überzeugende Darbietung dieses höchst anspruchsvollen Werkes. Hervorzuheben sind insbesondere die rhythmische Prägnanz, die klangliche Ausgewogenheit und die höchst musikalische Aufmerksamkeit, mit der die Instrumentengruppen aufeinander hörten und reagierten.</p> <p class="MsoNormal"><b style="mso-bidi-font-weight:normal"><o:p> </o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Idiomatik und Rhetorik in der Interpretation von Bartóks Musik</b></p> <p class="MsoNormal">Elemente, die Fricsay, ein gebürtiger Ungar, in seiner Aufnahme mit dem RSO Berlin dem Werk noch hinzuzufügen vermag, sind einmal das Idiomatische, mit dem die Verwurzelung Bartóks in der Volksmusik seines Landes auf eine Weise spürbar wird, ohne die dieser Musik etwas von ihrem Sinn zu fehlen scheint. Denn das heißt unbedingt auch Vermeiden von sich verselbständigender Sentimentalität und Trivialität, einer durchaus immanenten Gefahr, wenn das Volksmusikhafte-Idiomatische mit ins Spiel kommt. </p> <p class="MsoNormal">Fast noch bemerkenswerter an Fricsays Aufnahme aber sind die sprachähnlichen, rhetorischen Elemente, die vollständig aus Bartóks Musik zu kommen scheinen und ihr einen großartigen Sinn geben sowie daneben auch den Hauptanteil daran tragen, dass der Hörer von dieser Aufnahme so gefesselt wird.</p> <p class="MsoNormal">Nicht bei allen Komponisten ist die rhetorische Komponente in der Interpretation in gleichem Maße von Bedeutung, so ist etwa die Rhetorik, mit der Artur Schnabel die Musik Franz Schuberts so überwältigend darzustellen vermag, in seinen Interpretationen Beethoven zwar eindrucksvoll, aber keineswegs vollständig überzeugend.</p> <p class="MsoNormal">Indem rhetorische Interpretationselemente im Gehirn des Hörers von Bereichen der Sprach- und nicht der Musikverarbeitung wahrgenommen wird, bietet sich dem hierfür begabten Interpreten eine zusätzliche Dimension der künstlerischen Kommunikation – wenn sie denn der Musik gemäß ist.</p> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Zu schöner Schmelz? Die Akustik der Mercatorhalle Duisburg</b></p> <p class="MsoNormal">Nicht genug loben kann man das Verschmelzen des Klanges der Holzbläser untereinander, genauso aber zusammen mit den Streichern als besonders bemerkenswerte Charakteristik dieses Jahr 2007 eröffneten Konzertsaales. Auf großes Orchester ausgelegt, gefällt der Klang unmittelbar, lässt allerdings nach einiger Zeit auch den gelegentlichen Wunsch nach etwas mehr Biss und kitzelnder Attraktivität aufkommen – vielleicht ließe sich mittelfristig noch etwas optimieren in der Abfolge und Intensität der frühen Reflexionen.</p> <p class="MsoNormal">Während der Klang im Haydn und im Prokofiev ansonsten keinerlei Wünsche offen ließ, wirkte das Orchester im größer besetzten und perkussiveren Bartók merkwürdigerweise indirekter. Die Posaunen, hinten rechts platziert, klangen eher hart gegenüber Holzbläsern und Streichern, und die Kontrabässe, obwohl stark besetzt, wirkten punktförmig und konnten dem Gesamtklang kein wirklich überzeugendes Fundament verleihen.<span style="mso-spacerun: yes"> </span>Akustisch günstiger wären hier vermutlich nicht auf der rechten Seite, sondern breit hinter dem Orchester aufgestellte Kontrabässe gewesen. Etwas irritierend war im Bartók zudem, dass der Nachhall von Fortissimo–Stellen (bei einem Platz in der 21. Reihe) deutlich von vorne zu kommen schien und nicht, wie wünschenswert, ausgewogen aus allen Richtungen des großvolumigen Raumes.</p> <p class="MsoNormal">Die Akustik des Saals könnte also von verfeinernder Detailarbeit sicher noch profitieren, wie sie in vergleichbaren neuen Sälen während oder nach den ersten Jahre des Betriebes meist stattfindet. Dann würde die Akustik noch mehr Werken und Besetzungen gerecht und vermutlich als wirklich gelungen bezeichnet werden können.</p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-1678027402222395510.post-5409750520834704292009-05-26T18:00:00.001+02:002009-05-28T16:00:59.462+02:00Ligeti Lontano, Bruckner 7, zeitliche Dehnungen und Pathos<!--StartFragment--> <div class="Section1"> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"></p><div class="Section1"><p class="MsoNormal" align="right" style="text-align: right; ">© Gernot von Schultzendorff 2009</p></div><p></p><p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1">BLOG vom 20.4.2009</p></div> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Konzert des Staatsorchesters Hannover in der Staatsoper Hannover am 19.4.2009<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Dirigent: Andrés Orozco-Estrada<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal">Programm:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>G. Ligeti: Lontano<br /></li><li>A. Bruckner: Symphonie Nr. 7</li></ul> <p class="MsoNormal">Daran anknüpfende Themen:</p> <p class="MsoNormal"></p><ul><li>Zeitliche Dehnungen, wenn „viel passiert“, und Pathos<br /></li></ul><p></p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal">Großer Enthusiasmus bei Publikum und Orchester über dieses gelungene Dirigat. Der junge Kolumbianer Orozco-Estrada hatte viel Vertrauen in die Stücke, das Orchester und das Publikum, gab der Musik alle erforderliche Zeit, sich zu entfalten und wurde vom Orchester mit größter Kooperationsbereitschaft belohnt.</p> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Ligeti: Lontano<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal">[Vergleichsaufnahmen:<span style="mso-bidi-mso-bidi-theme-font:minor-latin;font-family:Cambria;"><span style="mso-list:Ignore"><span style="font:7.0pt "Times New Roman""><span class="Apple-tab-span" style="white-space:pre"></span></span></span></span></p><p class="MsoNormal"></p><ul><li><span style="mso-bidi-mso-bidi-theme-font:minor-latin;font-family:Cambria;"><span style="mso-list:Ignore"><span style="font:7.0pt "Times New Roman""><span class="Apple-tab-span" style="white-space:pre"> </span></span></span></span>Berliner Philharmoniker unter Jonathan Nott, aus dem Ligeti Project Vol. 2 bei Warner;<br /></li><li>Wiener Philharmoniker unter Claudio Abbado, auf der CD Wien Modern bei der DG.] </li></ul> <p class="MsoNormal">Das Werk, 1967 komponiert, würde auch wunderbar in Kubricks Kultfilm „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) passen, für den der Regisseur jedoch 3 andere Werke Ligetis verwendete. Lontano war dann Filmmusik in Kubricks „Shining“ (1980).</p> <p class="MsoNormal">Die Aufführung realisierte bewunderungswürdige Klangfelder, die sich so nur im Konzert, nicht jedoch auf Stereo-Aufnahmen verwirklichen lassen. Auch das Entfernte, das der Titel Lontano fordert, wirkte weitgehend umgesetzt, nur wenige Einsätze und Abschlüsse waren etwas überdeutlich.</p> <p class="MsoNormal">Auf der CD aus Wien lässt die große Räumlichkeit das Stück ganz übertrieben aufgeblasen erscheinen, ein künstlicher Raumklang tritt in Konkurrenz zu den Klängen des Orchesters, dessen Wirkungen sich nicht mehr frei entfalten können. Anders die Berliner Aufnahme mit zurückhaltender Räumlichkeit und erheblicher Distanz, die geradezu ideal erscheint, nur einige nicht genügend eingebettete Streichertremoli stören das<span style="mso-spacerun: yes"> </span>Bild.</p> <p class="MsoNormal">Man fragt sich allerdings beim Hören der genannten Aufnahmen und der heutigen Aufführung, ob mehr Variabilität und Flexibilität im Ablauf des Pulses dem Stück nicht noch gerechter würden.</p> <p class="MsoNormal"><o:p> </o:p></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Bruckner: Symphonie Nr. 7<o:p></o:p></b></p> <p class="MsoNormal">[Vergleichsaufnahme:</p><p class="MsoNormal"></p><ul><li>SWR Sinfonieorchester unter S. Celibidache (1971), veröffentlicht bei der DG;<br /></li><li>sowie die Erinnerung des Autors an eine Aufführung dieses Werkes in Hannover mit dem Concertgebouw Orkest unter Eugen Jochum im Jahr 1987, ein Vierteljahr vor seinem Tod.]</li></ul> <p class="MsoNormal">Tatsächlich eine Aufführung, wie man sie sich in einem hannoverschen Abonnementskonzert nicht besser wünschen könnte. Große Musikalität der Phrasierung und, wie oben schon erwähnt, besonders eindrucksvoll die Zeit, die die Phrasen zum Ausklingen erhielten.</p> <p class="MsoNormal">Zwar scheinen Tempoübergänge nicht die größte Stärke Orozco-Estradas zu sein, jedoch gelangen sie durch die große Aufmerksamkeit des Orchesters auf musikalische und spannungsreiche Weise.</p> <p class="MsoNormal">Bewunderungswürdig war die Klangbalance, Orozco-Estrada hatte den Mut, an verschiedenen Stellen die Pauke und im Schlussteil des ersten Satzes auch die Streicher im Klangbild fast verschwinden und dann wieder auftauchen zu lassen – mit großem künstlerischen Erfolg.</p> <p class="MsoNormal">Celibidache und Jochum geben in ihren Aufnahmen insbesondere den Eingangsthemen der Sätze erheblich mehr Größe und Gültigkeit, jedoch ist die „Bescheidenheit“ der in Hannover gehörten Interpretation nicht weniger plausibel und möglicherweise der überlieferten Persönlichkeit Bruckners selber noch angemessener.</p> <p class="MsoNormal"><br /></p> <p class="MsoNormal" style="mso-outline-level:1"><b style="mso-bidi-font-weight: normal">Zeitliche Dehnungen und Pathos<span class="Apple-style-span" style="font-weight: normal; "> </span></b></p> <p class="MsoNormal">Celibidaches Aufnahme von Bruckners 7. ist ein ungewöhnlicher Glücksfall der Interpretationsgeschichte: Nicht nur bauen sich lange Spannungsbögen ohne jede Brüche auf, nicht nur realisiert Celibidache staunenswert musikalische und das Werk zum Sprechen bringende Temponuancen und Tempowechsel, sondern es lässt sich an vielen Stellen auch anschaulich erleben, wie dann, wenn „viel passiert“, die musikalische Zeit langsamer wird gegenüber der metronomischen Zeit, auf völlig selbstverständliche und unauffällige Weise. </p> <p class="MsoNormal">Celibidache wurde einmal gefragt: <i style="mso-bidi-font-style: normal">Hat Furtwängler das Geheimnis seiner tiefgehenden Interpretationen verraten?<br /></i>Seine Antwort: <i style="mso-bidi-font-style:normal">»Ja. Ich fragte ihn: ›Herr Doktor, warum werden Sie hier so breit?‹ Seine Antwort: ›Ja, aber hören Sie denn nicht, wieviel los ist?‹ Das wars.«</i></p> <p class="MsoNormal">In Celibidaches Aufnahme der 7. Symphonie Bruckners kommt dieser souveräne Umgang mit der musikalischen Zeit auf Schönste zur Geltung.</p> <p class="MsoNormal">Warum bekommen wir eine solche Art von interpretatorischer Vertiefung<span style="mso-spacerun: yes"> </span>der Komposition so selten zu Gehör? Offenbar ist diese Weise des Musikmachens in Misskredit geraten. Im aktuellen Heft der Zeitschrift <i style="mso-bidi-font-style:normal">Fonoforum</i> (5/09) lesen wir in einem Interview mit dem Dirigenten Martin Haselböck auf S. 51: <i style="mso-bidi-font-style:normal">„Kolisch und Leibowitz waren die Ersten, die dem Pathetisieren entgegengearbeitet haben. Denn im 19. Jahrhundert war die Vergrößerung des Klangs mit dessen Verlangsamung einhergegangen.“</i></p> <p class="MsoNormal">Seit dem Durchmarsch der „werktreuen“ Interpretationen in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts sind der Pathetisierung verdächtige Spielweisen weitgehend verpönt. Das Pendel hat dabei weit über ein musikalisch sinnvolles Maß hinaus in die Gegenrichtung ausgeschlagen. Nicht nur die von Celibidache und Furtwängler vermuteten, auch andere grundlegende hörphysiologische Zusammenhänge werden von dieser Entwicklung immer wieder außer Acht gelassen:</p> <p class="MsoNormal" style="margin-left:35.45pt">Hohe Lautstärken erfordern, wenn ein Tempo als gleichschnell wahrgenommen werden soll, ohnehin eine Verlangsamung des metronomischen Tempos. Akzente lassen sich in zwei Ausführungsweisen realisieren, auf dynamische und zeitliche (verlängernde) Weise (meist kommt es zu einer Mischform); bei Orgel und Cembalo, beides Instrumente ohne unmittelbare Dynamik, müssen die Musiker ohnehin ausschließlich mit dem Mittel des zeitlichen Akzents arbeiten.</p> <p class="MsoNormal">Das vom Hörer wahrgenommene Tempo orientiert sich ja nicht am Metronom, es ist vielmehr in erheblichem Maße abhängig von objektiven hörphysiologischen Gegebenheiten sowie von seinem musikalischen Erleben, also vom musikalischen und interpretatorischen Inhalt des Gehörten. Offenbar traf die Tabuisierung des Verlangsamens jedoch einen Nerv der Zeit, man hatte sich sattgehört an diesem Kunstmittel, jedenfalls an seiner übertriebenen Verwendung, denn erst durch übertriebenen oder falschen Gebrauch wird die Verlangsamung zum Pathos. Eine häufige Form des falschen Gebrauches ist es, wenn durch Verlangsamung beim Hörer der Eindruck erzeugt werden soll, dass „viel passiert“, dieser Eindruck durch das jeweilige kompositorische und interpretatorische Umfeld aber nicht gestützt wird.</p> <p class="MsoNormal">An die Stelle der hier gemeinten gewissermaßen lokalen Verlangsamung innerhalb einzelner Takte oder einzelner Phrasen (der Begriff „Rubato“ hat eine etwas andere Bedeutung) trat in den 50er Jahren die viel großflächigere starke tempomäßige Differenzierung zwischen den formalen Abschnitten. Auch hierbei kam es natürlich zu erheblichen Übertreibungen, und in einem späteren Blog soll Glenn Goulds Unbehagen hieran untersucht werden: Seine Tempogestaltung von Brahms’ 2. Klavierkonzert verweigerte sich beim Seitenthema des 1. Satzes dieser Gewohnheit der starken Verlangsamung und führte (unter anderem) zur skandalumwitterten Distanzierung des Dirigenten Leonard Bernstein von der gemeinsamen Interpretation.</p> <p class="MsoNormal">Auch die historische Aufführungspraxis hat dieses von der „werktreuen“ Interpretationspraxis tabuisierte Terrain noch nicht wirklich zurückgewonnen, wenngleich sich Martin Haselböck von diesem Tabu im oben schon zitierten Interview schon vorsichtig distanziert: <i style="mso-bidi-font-style: normal">„Auch bei den Sinfonien [Beethovens] habe ich die Metronomangaben zwar als Grundlage genommen, aber im Verlaufe der Beschäftigung gespürt, dass die Tempi sich für mich ganz persönlich entwickelten, dass ich an manchen Stellen schneller bin, an anderen langsamer.“</i></p> <!--EndFragment-->Gernothttp://www.blogger.com/profile/15279564560675220910noreply@blogger.com0